Entscheidungsstichwort (Thema)

Gleichheitswidrige Kürzung tariflicher Kündigungsfristen bei Abschluss eines Sozialplans

 

Leitsatz (amtlich)

1. Grundsätzlich liegt es in der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien, Kündigungsfristen abzukürzen und für alle Arbeitnehmer gleich lange Kündigungsfristen vorzusehen. Allerdings liegt ein Verstoß gegen Art. 3 GG vor, wenn die sonst geltenden, von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängigen tariflichen Kündigungsfristen einheitlich erheblich verkürzt werden für den Fall, dass ein Sozialplan abgeschlossen worden ist. Allein der Umstand, dass ein Sozialplan gegeben ist, kann die Ungleichbehandlung nicht in angemessener Form rechtfertigen.

2. Werden von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängige tarifliche Kündigungsfristen einheitlich für den Fall, dass ein Sozialplan abgeschlossen worden ist, erheblich abgekürzt, liegt zugleich ein nicht gerechtfertigter Verstoß gegen §§ 7, 1 AGG vor.

 

Normenkette

GG Art. 3; BGB § 622 Abs. 2 S. 1; AGG §§ 7, 1; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3; BGB § 622 Abs. 4 S. 1; AGG § 3 Abs. 2, § 7 Abs. 1 Hs. 1; RTV § 15 Nr. 1 Abs. 3

 

Verfahrensgang

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 20.07.2017; Aktenzeichen 4 Ca 312/16)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 24.10.2019; Aktenzeichen 2 AZR 103/18)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 20. Juli 2017 (4 Ca 312/16) abgeändert.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 24. November 2016 nicht zum 31. Dezember 2016, sondern zum 31. Dezember 2017 beendet worden ist.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien haben in der Berufungsinstanz noch über das Beendigungsdatum aufgrund einer Kündigung der Beklagten vom 24. November 2016 gestritten.

Die Beklagte war bis zum 31. Dezember 2016 Betreiberin eines Hafenterminals im Bereich Container, Massengutumschlag, Projekt und Stückgut und RO/RO Verladung.

Der am XX.XX.1954 geborene, ledige und keiner Person zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgängern seit 01.03.1990 als technischer Angestellter/Lademeister beschäftigt mit einer zuletzt erzielten Monatsvergütung von € 4.898,79. Der Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 60.

Auf das Arbeitsverhältnis fand der Rahmentarifvertrag für die technischen Angestellten in den Stückgut-Kaibetrieben (im Weiteren: RTV technische Angestellte) und die dazu jeweils abgeschlossenen Sonderbestimmungen Anwendung. Der RTV technische Angestellte enthält für die Kündigungsfristen unter § 15 die folgenden Regelungen:

1. Für die Kündigung gelten die gesetzlichen Kündigungsfristen.

Bei 15jährigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses beträgt die beiderseitige Kündigungsfrist neun Monate zum Ende eines Kalenderhalbjahres, wenn der Arbeitnehmer das 50. Lebensjahr vollendet hat.

Soweit Sozialpläne abgeschlossen wurden, beträgt die Kündigungsfrist einen Monat zum Monatsende.

2. [...]

Da der Mietvertrag für die Nutzung des Betriebsgeländes zum 31. Dezember 2016 auslief und eine Laufzeitverlängerung nicht zustande kam, wurde der Terminalbetrieb zum 31. Dezember 2016 stillgelegt. Die Beklagte kündigte allen beschäftigten Arbeitnehmern betriebsbedingt zum 31. Dezember 2016, darunter auch dem Kläger. Gegen die Kündigung vom 24. November 2016 (vgl. Anlage K1, Bl. 4 f d.A.) hat sich der Kläger mit seiner am 15. Dezember 2016 bei Gericht eingegangenen Klage gewehrt.

Den Kündigungen waren Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich vorangegangen. Diese scheiterten nach fünf Sitzungen der Einigungsstelle am 14. September 2016. Am selben Tag wurde gegen die Stimmen des Betriebsrates durch Spruch der Einigungsstelle ein Sozialplan beschlossen (vgl. Anlage B3, Bl. 67 ff d.A.).

Dieser enthält unter "§ 1 persönlicher Geltungsbereich, Ausschlusstatbestände" folgende Regelungen:

(1) [...]

(2) Keine Leistungen nach den Bestimmungen dieses Sozialplans erhalten Mitarbeiter (Ausschlusstatbestände),

...

** die entweder unmittelbar nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis oder im Anschluss an eine möglicher Bezugnahme von Arbeitslosengeld I (unabhängig von der tatsächlichen Bezugnahme des Arbeitslosengeldes) eine Altersrente (gekürzt oder ungekürzt) aus der gesetzlichen Rentenversicherung in Anspruch nehmen können (sog. "rentennahe Arbeitnehmer"), wobei eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen gemäß §§ 37, 236a SGB VI sowie eine Altersrente für Frauen gemäß § 237a SGB VI außer Betracht bleibt."

§ 4 des Sozialplans beinhaltet Regelungen zur Berechnung der zu zahlenden Abfindungen.

Der Sozialplan wurde vom Betriebsrat angefochten. Das Beschlussverfahren (Arbeitsgericht Hamburg (29 BV 23/16 = 7 Sa 3/17) ist noch nicht rechtskräftig abgeschlossen.

Der Kläger hat - soweit für das Berufungsverfahren noch von Bedeutung - vorgetragen, in seinem Fall gelte die tarifvertragliche Kündigungsfrist zum 31. Dezember 2017. Denn die tarifvertragliche Regelung zur p...

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