Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachwirkung eines Tarifvertrags bei fehlender Tarifbindung. Ende der Allgemeinverbindlichkeit. Beginn der Nachwirkung. Überbrückungsfunktion. neuer TV ohne AV
Leitsatz (amtlich)
1. Endet mit einem gekündigten Tarifvertrag auch dessen Allgemeinverbindlichkeit, kommt die Nachwirkung auch dem nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer zugute.
2. Es gibt keine ewige Nachwirkung, so daß mit Inkrafttreten des neuen Tarifvertrags auch für den Außenseiter die Nachwirkung endet.
3. Der Normzweck und systematische Zusammenhang des § 4 Abs. 5 TVG [xxxxx] eine Abkehr von der höchstrichterl. bisherigen Rechtsprechung.
Normenkette
TVG § 4 Abs. 5, § 5; GG Art. 9 Abs. 3
Verfahrensgang
ArbG Hamburg (Urteil vom 13.01.1999; Aktenzeichen 12 Ca 257/99) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 13. Januar 1999 – 12 Ca 257/98 – wie folgt abgeändert:
Die Klage wird in Höhe von DM 2.067,54 abgewiesen (Gratifikationen 1998).
Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin 2/5, die Beklagte 3/5.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die fortbestehende Nachwirkung für Außenseiter, und zwar auch nach Abschluß eines neuen, nicht für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags.
Die Beklagte betreibt den Einzelhandel mit Lederwaren und Accessoires, in Hamburg mit vier Geschäften sowie mit einer Filiale in Wedel bei Hamburg und einer weiteren auf Sylt. Die Beklagte ist nicht tarifgebunden. In der Vergangenheit rechnete sie die Arbeitsverhältnisse nach dem Manteltarifvertrag für den Hamburger Einzelhandel von 1993 ab, der im Februar 1994 für allgemeinverbindlich erklärt worden war und der in § 11 ein Urlaubsgeld und in § 12 eine Sonderzuwendung vorsah. Dieser Tarifvertrag wurde zum 31. Dezember 1996 gekündigt. Am 8. August 1997 einigten sich die Tarifvertragsparteien auf einen neuen MTV mit Wirkung ab 1. Januar 1998, während sie zugleich den MTV von 1993 zum 31. Dezember 1997 außer Kraft setzten (§ 22 Ziff. 2 MTV Einzelhandel vom 8. August 1997).
Mit ihrer Klage macht die ebenfalls nicht tarifgebundene Klägerin, die seit Mai 1990 für die Beklagte in Hamburg als Verkäuferin mit 25,5 Stunden pro Woche in Teilzeit tätig gewesen ist, für 1997 und (anteilig) 1998 das tarifliche Urlaubsgeld und die tarifliche Sonderzuwendung geltend. Die Klägerin ist durch eigene Kündigung am 30. September 1998 bei der Beklagten ausgeschieden. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag existierte nicht. Der Höhe nach ist der Klageanspruch nicht streitig.
Die Klägerin hat vorgetragen, die Ansprüche stünden ihr aus dem Gesichtspunkt der Nachwirkung sowohl für 1997 als auch für 1998 zu. Die gesetzlich angeordnete Nachwirkung sei auch durch den am 1. Januar 1998 in Kraft getretenen Tarifvertrag nicht beseitigt worden. Sie knüpfe allein an den Ablauf eines Tarifvertrags an und beschränke sich richtiger Ansicht nach nicht auf Arbeitsverhältnisse, die zuvor kraft Organisationszugehörigkeit unmittelbar und zwingend tarifgebunden gewesen seien. Der neue Tarifvertrag könne nicht als andere Abmachung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG angesehen werden, weil er – wie unstreitig – nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden sei.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie
- DM 2.756,72 brutto nebst 4% Zinsen auf den sich ergebenden Nettobetrag aus DM 1.547,95 ab 1. Dezember 1997 und aus DM 1.208,77 ab 1. April 1998 zuzahlen,
- weitere DM 906,58 brutto nebst 4% Zinsen seit dem 9. September 1998 sowie weitere DM 1.160,96 brutto am 30. November 1998 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat geltend gemacht, sowohl für 1997 als auch für 1998 seien tarifliche Ansprüche aus dem Gesichtspunkt der Nachwirkung wegen bestehender „anderer Abmachungen” ausgeschlossen. Die Nachwirkung, auf die sich die Klägerin berufe, habe frühestens im Januar 1997 beginnen können. Zu diesem Zeitpunkt sei die Allgemeinverbindlichkeit des MTV durch die Kündigung zum 31. Dezember 1996 bereits beendet gewesen. Nach diesem Zeitpunkt habe aber zugunsten der Klägerin ein Anspruch aus Nachwirkung nicht mehr begründet werden können. Die Allgemeinverbindlichkeit entfalte keine Nachwirkung, um tariflose Zustände zu überbrücken. Andernfalls würde sie eine Nachwirkung entfalten können, was auf eine mit dem Grundrecht auf negative Koalitionsfreiheit nicht zu vereinbarende Überbrückungsfunktion hinausliefe. Das gelte besonders für einen Zeitraum, in dem bereits ein neuer, nicht für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag in Kraft getreten sei. Andernfalls käme man zu dem absurden Ergebnis, daß nicht tarifgebundene Arbeitnehmer weiterhin Ansprüche aus einem aufgehobenen Tarifvertrag herleiten könnten, während sich die tarifgebundenen Arbeitnehmer mit den u. U. ungünstigeren Ansprüchen aus dem neuen Tarifvertrag begnügen müßten.
Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 13. Januar 1999 der Klage sta...