Entscheidungsstichwort (Thema)
Weitergeltung von Gesamtbetriebsvereinbarungen im Fall eines Betriebsübergangs. Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen bei Zusammenlegung mehrerer Betriebe desselben Inhabers. Freiwillige Betriebsvereinbarung und Nachwirkung. Betriebliche Übung als Anspruchsgrundlage
Leitsatz (redaktionell)
1. Gesamtbetriebsvereinbarungen behalten im Fall eines Betriebsübergangs bei Wahrung der Betriebsidentität ihre unmittelbare und zwingende Wirkung, denn das Bezugsobjekt der Gesamtbetriebsvereinbarung sind die einzelnen Betriebe; eine Gesamtbetriebsvereinbarung gilt nicht "im Unternehmen", sondern in den Betrieben des Unternehmens.
2. Bei einer Zusammenlegung mehrerer Betriebe desselben Inhabers zu einem neuen Betrieb bleiben die Betriebsvereinbarungen der Ursprungsbetriebe solange bestehen, wie ihre Anwendung im neuen Betrieb möglich und sinnvoll ist und Regelungen für den neuen Betrieb nicht geschaffen wurden.
3. Die Betriebsparteien können auch bei einer freiwilligen Betriebsvereinbarung die vollständige oder teilweise Nachwirkung vereinbaren.
4. Nach ständiger Rechtsprechung entsteht eine betriebliche Übung durch ein gleichförmiges und wiederholtes Verhalten des Arbeitgebers, das den Inhalt der Arbeitsverhältnisse gestaltet und geeignet ist, vertragliche Ansprüche auf eine Leistung zu begründen, wenn und soweit der Arbeitnehmer aus dem Verhalten des Arbeitgebers schließen durfte, ihm werde eine entsprechende Leistung auch zukünftig gewährt. Dieses Verhalten ist als Vertragsangebot zu werten, das von den Arbeitnehmern stillschweigend angenommen werden kann, wobei der Zugang der Annahmeerklärung nach § 151 BGB entbehrlich ist.
Normenkette
BGB § 613 a Abs. 1 S. 2; BetrVG § 77; BGB §§ 151, 242; BetrVG § 76 Abs. 5
Verfahrensgang
ArbG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 18.01.2022; Aktenzeichen 4 Ca 1037-21) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen vom 18.01.2022 - 4 Ca 1037/21 - wird zurückgewiesen.
Das vorgenannte Urteil wird mit der Maßgabe aufrechterhalten, dass festgestellt wird, dass die Beklagte weiterhin verpflichtet ist, dem Kläger Beihilfeleistungen nach Maßgabe von Teil IV Nr. 34 der Vereinsordnung vom 15.12.1978 zu gewähren.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Beihilfen im Krankheitsfall (Zuschüsse zu Krankheitskosten) nach Maßgabe einer Gesamtbetriebsvereinbarung ("Vereinsordnung") aus dem Jahr 1978 zu gewähren. Diese Vereinsordnung galt beim A e.V. Im Zusammenhang mit einer Umstrukturierung und Aufspaltung des A e.V entstand die B GmbH, die mit dem Kläger im Jahr 1994 ein Arbeitsverhältnis begründete. Das Arbeitsverhältnis wurde seit dem Jahr 2005 mit der Beklagten fortgeführt, die Betriebe von der B GmbH übernahm. Hintergrund des Streits der Parteien ist die Frage, ob die Beklagte (weiterhin) an die Bestimmungen über die Beihilfegewährung aus der Vereinsordnung gebunden ist.
In der Vereinsordnung vom 15.12.1978 (Blatt 19 ff. der Akten), die zwischen dem Vorstand des A e.V. und dem Gesamtbetriebsrat des A e.V. abgeschlossen wurde, ist unter anderem Folgendes geregelt:
"Teil I: ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN
1. Geltungsbereich
Die Vereinsordnung gilt für alle Arbeitnehmer im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes (mit Ausnahme der Leitenden Angestellten gemäß § 5 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes sowie mit Ausnahme der Auszubildenden gemäß Berufsbildungsgesetz, Leihkräfte und Praktikanten) - im folgenden Mitarbeiter genannt.
2. Inkrafttreten und Kündigung
2.1. Die Vereinsordnung tritt am 1. Januar 1979 in Kraft.
2.2. Die Vereinsordnung oder Teile der Vereinsordnung können mit einer Frist von drei Monaten zum Ende eines Kalendervierteljahres gekündigt werden. Die Kündigung bedarf der Schriftform.
3. Nachwirkung
Die Bestimmungen der Vereinsordnung gelten über den Zeitpunkt, in welchem die Vereinsordnung endet, hinaus so lange weiter, bis eine neue Vereinbarung zwischen Vorstand und Gesamtbetriebsrat getroffen ist.
(...)
Teil IV: Beihilfen
34. Beihilfe im Krankheitsfall
34.1 Der Verein gewährt den Mitarbeitern im Falle von Krankheit Beihilfen zu den Kosten der ambulanten Arztbehandlung und zu den Aufwendungen für ärztlich verordnete Heilmittel (einschl. Zahnbehandlung und Zahnersatz).
(...)
34.2 Voraussetzungen für eine Beihilfegewährung sind:
a) dass der Mitarbeiter unter den Geltungsbereich der Vereinsordnung fällt,
b) dass der Mitarbeiter zum Zeitpunkt der Antragstellung ein Jahr dem Verein angehört hat und dass er mindestens 15 Std./Woche tätig ist,
c) (...)
d) dass der Mitarbeiter zu der Zeit, in welcher Aufwendungen entstanden sind, laufende oder Krankenbezüge im Rahmen des mit dem Verein bestehenden Dienstverhältnisses erhalten hat. Hierzu zählt auch die Zeit für welche ein Mitarbeiter in den einstweiligen Ruhestand versetzt wird,
(...)"
Die Vereinsordnung vom 15.12.1978 sieht hinsichtlich der Beihilfeleistungen u.a. vor, dass durch R...