Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwirkung im Sozialversicherungsrecht
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Rechtsinstitut der Verwirkung gilt als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auch für das Sozialrecht. Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebiets das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung auslösenden „besonderen Umstände” liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde.
2. Es deutet in den sozialversicherungsrechtlichen Regelungen nichts darauf hin, dass nach dem Regelungsplan des Gesetzgebers auch für den Einbehalt von Beiträgen bei Versorgungsleistungen eine der Verjährung vorgelagerte zeitliche und sachliche Einschränkung der Einbehaltensmöglichkeiten geregelt werden sollte.
Normenkette
BGB § 242
Verfahrensgang
ArbG Iserlohn (Urteil vom 01.09.2004; Aktenzeichen 1 Ca 980/04) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Iserlohn vom 01.09.2004 – 1 Ca 980/04 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Zahlung restlicher Beträge einer Hinterbliebenenrente aufgrund von Einbehalten wegen langjährig unterlassener Abführungen von Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträgen.
Zwischen der Beklagten und dem Ehemann der Klägerin bestand ein Arbeitsverhältnis. Daraus standen dem Ehemann Versorgungsansprüche zu. Der Ehemann der Klägerin ist verstorben. Die Klägerin bezieht seit dem 05.01.1993 Witwenversorgungsbezüge von der Beklagten. Dies zeigte die Beklagte der Krankenkasse der Klägerin mit den Schreiben vom 24.02.1993 (Abl. Bl. 18 d.A.) und vom 30.04.1993 (Abl. Bl. 17 d.A.) und mit monatlichen Meldungen im Rahmen der maschinellen Abwicklung des so genannten Zahlstellenverfahrens an. Mit Beitragsbescheid vom 28.05.2003 (Abl. Bl. 19 d.A.) und mit Schreiben vom 17.07.2003 (Abl. Bl. 5 d.A.) forderte die Krankenkasse von der Beklagten die Abführung von Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträgen für die Zeit ab dem 05.01.1993. Die Beklagte führte für die Zeit vom 01.12.1998 bis zum 31.12.2002 nach Maßgabe der „Berechnung der nachträglich einzubehaltenen Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung” (Abl. Bl. 21 d.A.) insgesamt 1.804,85 EUR nachträglich von den laufenden Leistungen der Hinterbliebenenbezüge an die Krankenkasse ab. Die Einbehalte erfolgten von den Bezügen für Oktober 2003 bis Mai 2004 mit jeweils 222,77 EUR und für Juni 2004 mit einem Restbetrag von 22,69 EUR.
Die Klägerin hat vorgetragen:
Die Beklagte habe bereits 1993 den Beitragsbescheid vom 21.04.1993 erhalten, ohne sodann die gebotenen Einbehalte vorzunehmen. Daher sei das Recht zu den Jahre später vorgenommenen Einbehalten verwirkt. Sie habe darauf vertraut, dass ihr die zugeflossenen Beträge verblieben und habe diese in ihrer bescheidenen Lebensführung verbraucht. Ihre Versorgungsbezüge seien zudem unpfändbar. Die Beklagte habe gegenüber der Krankenkasse die unbegründeten Forderungen abwehren müssen.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.804,85 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz aus jeweils 222,77 EUR seit dem 01.10., 01.11., 01.12.2003, 01.01., 01.02., 01.03., 01.04., 01.05.2004 sowie aus 22,69 EUR seit dem 01.06.2004 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat vorgetragen:
Die Beitragspflicht sei ihr erstmals im Jahr 2003 mitgeteilt worden. Zuvor sei ihr kein Beitragsbescheid zugegangen. Eine Verwirkung liege nicht vor.
Das Arbeitsgericht Iserlohn hat die Klage mit Urteil vom 01.09.2004 – 1 Ca 980/04 – abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Klageforderung sei aufgrund Aufrechnung erloschen. Der Anspruch auf Einbehalt sei nicht verwirkt. Es fehle an dem Umstandsmoment. Wegen der weiteren Einzelheiten der Entscheidung wird auf deren Tatbestand und Entscheidungsgründe verwiesen.
Das Urteil ist der Klägerin am 16.09.2004 zugestellt worden. Hiergegen richtet sich die am 17.02.2005 eingelegte und mit dem am 17.02.2005 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründete Berufung.
Die Klägerin wendet sich unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen ...