Entscheidungsstichwort (Thema)

Vergütungspflicht für Umkleidezeiten im Betrieb

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Leistung der versprochenen Dienste, an welche die Vergütungspflicht nach § 611 Abs.1 BGB anknüpft, zählt nicht nur die eigentliche Arbeitsleistung, sondern auch das vom Arbeitgeber angeordnete Umkleiden im Betrieb (Anschluss an BAG v. 13.12.2016, 9 AZR 574/15).

2. § 6 Abs.2 MTV Chemische Industrie West enthält - anders als § 3 Ziff.6 MTV Metall- und Elektroindustrie für Hamburg und Umgebung, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern - keine Bestimmung, wonach Umkleidezeiten nicht vergütungspflichtig wären, sondern nur eine Öffnungsklausel, wonach das Ob und das Wie einer Vergütung von Umkleidezeiten durch Betriebsvereinbarung geregelt werden kann.

3. Machen die Betriebspartner von der Möglichkeit, das Ob und das Wie der Vergütung von Umkleidezeiten durch Betriebsvereinbarung zu regeln, keinen Gebrauch, verbleibt es bei der sich aus dem Gesetz, insbesondere §§ 611, 612 BGB, ergebenden Rechtslage. Keineswegs kommt dem Nicht-Abschluss einer Betriebsvereinbarung der Erklärungswert zu, dass Umkleidezeiten nicht vergütet werden sollen.

4. Die vergütungspflichtige Arbeitszeit beginnt, sobald sich der Arbeitnehmer auf Weisung des Arbeitgebers beginnt umzukleiden. Das Umkleiden hat ohne schuldhaftes Zögern zu erfolgen. Findet der Umkleidevorgang auf Weisung des Arbeitgebers an einem Ort statt, der räumlich von der Betriebsstätte, an der die eigentliche Arbeitsleistung zu erbringen ist, entfernt ist, so gehört die notwendige Wegezeit vom Ort des Umkleidens zur Betriebsstätte ebenfalls zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit.

5. Der Umfang der redlicherweise benötigten Umkleide- und Wegezeiten kann im Streitfall gemäß § 287 Abs.1 und Abs.2 ZPO durch das Gericht geschätzt werden.

6. Eine sorgfältige Reinigung am Ende der Schicht ist im Sinne von § 6 Abs.1 MTV Chemische Industrie West aus gesundheitlichen Gründen auch dann erforderlich, wenn damit nur "die letzte Gewissheit zur Entfernung der (unstreitig exorbitant gefährlichen) Stäube auf der Haut" erreicht werden soll.

7. § 6 Abs.1 S.2 MTV Chemische Industrie West enthält hinsichtlich der Höhe der Vergütung für zu bezahlende Waschzeiten keine Öffnungsklausel für Betriebsvereinbarungen. Die Waschzeit ist vielmehr wie sonstige Arbeitszeit zu bezahlen.

 

Normenkette

MTV Chemische Industrie West vom 24.06.1992 § 6 Fassung: 2013-10-17; MTV Metall- und Elektroindustrie für HH und Umgebung, S-H, M-V § 3 Nr. 6

 

Verfahrensgang

ArbG Köln (Entscheidung vom 13.07.2016; Aktenzeichen 3 Ca 5020/15)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 13.07.2016 in Sachen 3 Ca 5020/15 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Vergütungspflicht von Umkleidezeiten, Waschzeiten und in diesem Zusammenhang anfallender Wegezeiten.

Bei der Beklagten handelt es sich um ein weltweit operierendes Unternehmen der Feinchemie mit rund 1.000 Mitarbeitern in sechs Werken in Europa und Asien. Im Betrieb der Beklagten im Chemiepark K betreibt sie die weltweit größte Anlage zur Herstellung von Monochloressigsäure.

Zu den Gefahren von Monochloressigsäure heißt es bei Wikipedia:

"Chloressigsäure und ihre Dämpfe sind giftig und wirken stark ätzend in den Augen, den Atemwegen und der Haut. Die Substanz wird leicht durch die Haut aufgenommen. Bei Berühren der Haut muss die Säure sofort mit Wasser abgespült werden. Es besteht die Gefahr einer Vergiftung, die bei Benetzung von 5 bis 10 % der Körperoberfläche ab 80 %iger Lösung zum Tode führen kann."

In den Arbeitsbereichen, in denen der Kläger tätig ist, fällt ferner das staub- bzw. pulverförmige Natriummonochloracetat an, welches ebenfalls hoch giftig ist und tödlich sein kann, wenn es eingeatmet, verschluckt oder über die Haut aufgenommen wird. Jeder Kontakt über die Haut soll daher vermieden werden.

Zur Abwehr der von den genannten Stoffen ausgehenden Gefahren schreibt die Beklagte den Arbeitnehmern das Tragen von Schutzkleidung vor, bestehend aus Ganzkörperschutzanzügen und Sicherheitsschuhen. Das Anlegen der Schutzkleidung vor Schichtbeginn und das Ablegen derselben nach Schichtende erfolgt auf Anordnung der Beklagten in dem von ihr seit 40 Jahren vorgehaltenen sogenannten Waschhaus. Dort können die Mitarbeiter sich nach Schichtende auch duschen oder waschen. Die Räumlichkeiten zum Umziehen und Waschen bzw. Duschen befinden sich im 2. Stock des Gebäudes, in welchem ein Aufzug nicht vorhanden ist.

Die Schutzkleidung wird über der privaten Unterwäsche getragen. Die Schutzkleidung ist personalisiert. Sie darf nicht mit nach Hause genommen bzw. vom Betriebsgelände entfernt werden. Für die Reinigung der Schutzkleidung sorgt die Beklagte.

Für den Fall, dass Mitarbeiter in den Arbeitsbereichen ungeplant mit Gefahrstoffen in Berührung kommen, stehen dort sogenannte Sprungwannen und auch Luftduschen zur Verfügung, mit denen auch mit gefährlichem Staub kontaminierte Schutzkleidung gesäuber...

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