Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung einer tariflichen Anwesenheitsprämie auf den gesetzlichen Mindestlohn
Leitsatz (amtlich)
1. Eine tarifvertragliche Anwesenheitsprämie, die zusätzlich zum Stundenlohn gezahlt und bei krankheitsbedingten Fehlzeiten gekürzt wird, ist regelmäßig geeignet, den gesetzlichen Mindestlohnanspruch zu erfüllen.
2. Die Funktion des Mindestlohns gebietet es nicht, die Anwesenheitsprämie zusätzlich zu diesem zahlen. Die Anwesenheit bzw. das Tätigwerden am Arbeitsplatz ist mit dem Mindestlohn abgegolten.
Normenkette
MiLoG § 1; BGB §§ 362, 366, 362 Abs. 1, § 366 Abs. 1; MiLoG § 1 Abs. 1; LTV § 5 Nr. 1 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Stralsund (Entscheidung vom 07.10.2015; Aktenzeichen 3 Ca 149/15) |
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund vom 07.10.2015 - 3 Ca 149/15 - teilweise abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger als restliches Arbeitsentgelt für den Monat Januar 2015 € 1,68 brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 01.02.2015 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
3. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Anrechenbarkeit einer tarifvertraglichen Anwesenheitsprämie auf den gesetzlichen Mindestlohn.
Der 1959 geborene Kläger ist seit dem 14.03.2005 bei der Beklagten, einem fischverarbeitenden Unternehmen, als Mitarbeiter im Transport-, Umschlag- und Lagerwesen beschäftigt. Nach § 3 des Arbeitsvertrages vom 21.03.2005 unterliegt das Arbeitsverhältnis den für den Arbeitgeber geltenden Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen in der jeweils gültigen Fassung. Der Kläger ist Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG).
Die Beklagte schloss am 06.05.2013 mit der Gewerkschaft NGG einen rückwirkend zum 01.03.2013 gültigen (Haus-)Lohntarifvertrag (im Folgenden nur LTV). Der Kläger bezieht die Vergütung der Lohngruppe 5 LTV. Der Tarifvertrag enthält folgende Bestimmungen:
"...
§ 5
Entgelte
Laufzeit vom 01.01.2015 bis zum 30.06.2015
Entgeltgruppen |
Std/Lohn in Euro |
Anwesenheitsprämie in Euro 5% |
durchschnittliche Leistungszulage in Euro |
Gesamtbetrag |
... |
... |
... |
... |
... |
Lohngruppe 5 |
8,34 |
0,37 |
0,66 |
9,37 |
... |
... |
... |
... |
... |
...
1. Jeder Arbeitnehmer erhält monatlich eine Anwesenheitszulage in Höhe von 15% zusätzlich zum Tarifentgelt. Pro Tag krankheitsbedingter Abwesenheit kann maximal ein Betrag von 25% des durchschnittlichen tariflichen Tagesverdienstes von dieser Prämie in Abzug gebracht werden ...
2. Die 15%ige Anwesenheitsprämie wird bis zum 01.07.2015 zugunsten des Tariflohns in den jeweiligen Lohngruppen abgebaut, und zwar in folgenden Schritten, auf 10% zum 01.01.2014, zum 01.01.2015 auf 5% und zum 01.07.2015 auf 0%. ...
..."
Am 16.01.2015 gab die Beklagte folgende Belegschaftsinformation heraus:
"...
zum Jahreswechsel 2015 wird es - wie Sie wissen - neben den gesetzlichen Änderungen durch den Mindestlohn auch eine Veränderung der Zusammensetzung Ihres Entgelts durch den gültigen Haustarifvertrag geben.
Für die Lohngruppen 2, 3 und 4 greift zum 01.01.2015 der gesetzliche Mindestlohn, mit dem auch die Zahlung der Anwesenheitsprämie entfällt.
Für die Lohngruppe 5 erfolgt eine anteilige Berechnung der Anwesenheitsprämie.
In den Lohngruppen 6-12 wird, gemäß Haustarifvertrag, ein weiterer Anteil der AWP auf den Grundstundenlohn umgelegt.
..."
Die Beklagte rechnete bei dem Kläger für den Monat Januar 2015 einen Monatslohn von 181 Stunden à € 8,50 = € 1.538,50 brutto sowie eine Anwesenheitszulage von € 36,33 brutto ab, in der Lohnabrechnung bezeichnet als "Anw.zulageProd.".
Am 12.02.2015 unterrichtete die Beklagte ihre Belegschaft aufgrund verschiedener Nachfragen nochmals über die veränderte Abrechnungsweise:
"...
am 16.01.2015 informierten wir Sie über die durch den Mindestlohn veränderte Abrechnungsweise Ihres Entgeltes. In den Lohngruppen 2, 3 und 4 wird die Anwesenheitsprämie ab dem 01.01.2015 entfallen. In der Lohngruppe 5 erfolgt eine anteilige Berechnung.
In den weiteren Lohngruppen 6-12 wird ein weiterer Teil der Anwesenheitsprämie auf den Grundlohn umgelegt.
Da hinsichtlich der angekündigten Vorgehensweise Fragen an die Kolleginnen herangetragen wurden, möchten wir mit der unten stehenden Erläuterung die Fragen beantworten:
Bezüglich der Anrechenbarkeit von Zulagen auf den Mindestlohn existieren neben Ausführungshinweisen bereits mehrere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (Entscheidung vom 14. April 2005 (C-314/02) und vom 7. November 2013 (C-522/12)).
Zusammenfassend ist hieraus zu entnehmen:
Werden mit Zulagen zusätzlich zur Normalleistung erbrachte Leistungen des Arbeitnehmers vergütet, sind die Zulagen nicht anrechenbar. Hierunter fallen beispielsweise Leistungs- und Qualitätsprämien.
Anders verhält es sich mit Zulagen, welche auf die Abgeltung der Normalleistung des Arbeitnehmers abstellen. Hierunter fällt beispie...