Entscheidungsstichwort (Thema)

Wochenfrist für Anhörung des zu Kündigenden. Kein Beginn der Zweiwochenfrist für den Arbeitgeber bei eigenen Ermittlungen zum Kündigungsgrund. Bewusstes und nachhaltiges Handeln für beharrliche Pflichtverletzung. Mögliches Eigenverschulden des Arbeitnehmers wegen Krankheit aufgrund von Schlägerei. Anwendbarkeit des § 296 BGB bei unwirksamer Arbeitgeberkündigung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Kündigungsberechtigte kann nach pflichtgemäßen Ermessen weitere Ermittlungen anstellen und den Betroffenen anhören, ohne dass die Frist des § 626 Abs. 2 BGB zu laufen beginnt. Soll der zu Kündigende angehört werden, muss dies innerhalb einer kurzen Frist erfolgen. Sie darf im Allgemeinen nicht mehr als 1 Woche betragen. Nur bei Vorliegen besonderer Umstände darf sie überschritten werden.

2. Beharrliche Arbeitsverweigerung setzt in der Person des Arbeitnehmers eine Nachhaltigkeit im Willen voraus. Er muss bewusst und nachhaltig die ihm übertragene Arbeit nicht leisten wollen. Dies erfordert in der Regel eine erfolglose vorherige Abmahnung.

3. Verschulden i.S.d. § 3 Abs. 1 S. 1 EntgFG kann nur dann vorliegen, wenn der Arbeitnehmer in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt. Erforderlich ist ein grober Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen und damit ein besonders leichtfertiges oder vorsätzliches Verhalten.

4. Im Streitfall hat der Arbeitgeber zu beweisen, dass der Arbeitnehmer besonders leichtfertig, grob fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt hat.

5. Ob bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, die auf eine Verletzung bei einer Schlägerei oder Tätlichkeit zurückzuführen ist, ein hinreichendes Eigenverschulden des Arbeitnehmers vorliegt, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.

6. Im ungekündigt bestehenden Arbeitsverhältnis findet § 296 BGB regelmäßig keine Anwendung. Nur bei einer unwirksamen Arbeitgeberkündigung bleibt Raum für § 296 BGB, weil der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer dann keinen funktionstüchigen Arbeitsplatz zuweist.

 

Normenkette

BGB §§ 626, 615, 611, 293-296; KSchG § 1; EntgFG §§ 3-4; ZPO § 92 Abs. 1; BGB § 516

 

Verfahrensgang

ArbG Stralsund (Entscheidung vom 14.12.2020; Aktenzeichen 1 Ca 44/20)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgericht Stralsund vom 14.12.2020 zum Aktenzeichen 1 Ca 44/20 wird das Urteil teilweise abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt an die Klägerin 1.031,57 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2020 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Berufung der Beklagten wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

4. Zur Klarstellung wird das Urteil wie folgt neu gefasst:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die Kündigung der Beklagten vom 26.06.2020 noch durch die Kündigung vom 30.06.2020 aufgelöst worden ist.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.031,57 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit dem 01.02.2020 zu zahlen.

3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.311,16 € brutto abzüglich 18,91 € netto nebst Zinsen in Höhe vom 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.07.2020 zu zahlen.

4. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.311,16 € brutto abzüglich 567,30 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.08.2020 zu zahlen.

5. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.311,16 € brutto abzüglich 567,30 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.09.2020 zu zahlen.

6. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

7. Die Klägerin trägt 20%, die Beklagte trägt 80% der Kosten des Rechtsstreits.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen außerordentlichen Kündigung, einer hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung für das Arbeitsverhältnis der Parteien sowie um Zahlungsansprüche auf Entgeltfortzahlung und aus Annahmeverzug.

Die im Januar 1995 geborene Klägerin hat eine amtlich bestellte Betreuerin mit dem Aufgabenkreis "Behörden-, Versicherungs-, Renten- und Sozialleistungsangelegenheiten sowie Vermögenssorge". Die Betreuerin vertritt die Klägerin im Rahmen ihres Aufgabenkreises gerichtlich und außergerichtlich.

Nachdem die Klägerin bei der Beklagten, welche als Inklusionsunternehmen u. a. ein Hotel betreibt, in dem regelmäßig abgesehen von den Auszubildenden mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt sind, eine Ausbildung absolviert hatte, ist sie seit dem 01.02.2018 gemäß schriftlichen Arbeitsvertrag als Servicekraft mit einer Arbeitszeit von 30 Stunden pro Woche in der Vergütungsgruppe 2 zuletzt mit monatlich 1.311,16 € brutto bei der Beklagten beschäftigt.

In den Morgenstunden des 19.12.2019 ist es nach einer Betriebsweihnachtsfeier im Hotel B. in A-Stadt außerhalb des Hotels zu einer Auseinandersetzung der alkohol...

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