Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifautonomie und Grundrechtsschutz der Tarifvertragsparteien. Weiter Gestaltungsspielraum und Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien. Grenze der Tarifautonomie durch das allgemeine Gleichheitsgrundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Praktische Konkordanz bei der Grundrechtsausübung als Prüfauftrag der Gerichte. Sachliche Gründe für unterschiedliche Zuschlagshöhe für Nachtschichtarbeit und Nachtarbeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Den Tarifvertragsparteien kommt als selbstständigen Grundrechtsträgern aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie müssen nicht die jeweils vernünftigste, zweckmäßigste oder gerechteste Regelung vereinbaren, es genügt, wenn sie für ihre Tarifregelungen sachliche Gründe anführen können.
2. Die Tarifvertragsparteien haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und die betroffenen Interessen. Dies gilt auch für die tarifliche Ausgestaltung des Ausgleichs für Nacht- und Schichtarbeit im Rahmen des § 6 Abs. 5 ArbZG.
3. Eine Grenze der Tarifautonomie ergibt sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die aus diesem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obgleich zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen.
4. Die Schutzfunktion der Grundrechte verpflichtet die Arbeitsgerichte, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die Art. 3 Abs. 1 GG verletzen. Die Gerichte prüfen dabei eine praktische Konkordanz zwischen der Dispositionsfreiheit des Normgebers aus Art. 9 Abs. 3 GG und den Schutzrechten Dritter aus Art. 3 Abs. 1 GG. Bei Überprüfung von Tarifverträgen anhand des allgemeinen Gleichheitssatzes ist dabei auf die generellen Auswirkungen der Regelungen abzustellen.
5. Eine unterschiedliche tarifliche Höhe des Zuschlags für Nachtschichtarbeit und Nachtarbeit ist gerechtfertigt, wenn branchentypische Besonderheiten eine Differenzierung erfordern. So kann die Planbarkeit der regelmäßigen Nachtschichtarbeit einen sachlichen Unterschied zur nicht planbaren Nachtarbeit darstellen und eine unterschiedliche Zuschlagshöhe rechtfertigen.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3; ArbZG § 6 Abs. 1, 5; MTV Futtermittelindustrie Bayern § 4 Nr. 2 Fassung: 2005-04-22, Nr. 3 Fassung: 2005-04-22, § 5 Nr. 1 a Fassung: 2005-04-22, § 6 Nr. 1 b Fassung: 2005-04-22, Nr. 5 Fassung: 2005-04-22
Verfahrensgang
ArbG Kempten (Entscheidung vom 20.01.2020; Aktenzeichen 3 Ca 1032/19) |
Tenor
1. Die Berufung der Klagepartei gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kempten vom 20.01.2020 - 3 Ca 1032/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge für im Rahmen von Nachtschichten geleistete Arbeitszeit.
Die Klagepartei ist seit 2015 bei der Beklagten als Maschinist beschäftigt. Die Beklagte ist ein Unternehmen der Futtermittelindustrie. Bei ihr sind ca. 10 Arbeitnehmer in einem Wechselschichtmodell in drei Schichten: Frühschicht (4 Arbeitnehmer) / Spätschicht (4 Arbeitnehmer) / Nachtschicht (2 Arbeitnehmer) tätig. Die Schichtpläne werden im Betrieb der Beklagten jeweils drei Wochen vorher ausgehängt. Im Fall von Krankheit oder Urlaub der danach eingeteilten Arbeitnehmer werden die Schichtpläne kurzfristig angepasst.
Aufgrund beiderseitiger Tarifbindung ist auf das Arbeitsverhältnis der Parteien der Manteltarifvertrag für die Futtermittelindustrie in Bayern vom 22.04.2005 (Anlage K1 = Bl. 5 ff. d. A. und Anlage B1 = Bl. 38 ff. d. A.; nachfolgend: MTV Futtermittelindustrie) anwendbar. Darin heißt es u.a.:
§ 4
Mehr-, Nacht-, Wechselschicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit
1. Mehrarbeit ist jede über die betrieblich vereinbarte regelmäßige werktägliche Arbeitszeit hinausgehend geleistete Arbeit, soweit sie angeordnet oder genehmigt ist. Mehrarbeit ist nach Möglichkeit zu vermeiden. Ist sie unvermeidlich, so kann sie nur unter Zustimmung des Betriebsrats angeordnet werden. Diese Zustimmung ist nicht erforderlich, wenn es sich um einzelne Arbeitnehmer oder um unvorhergesehene Fälle handelt.
2. Nachtarbeit ist die in der Zeit vom 20.00 Uhr bis 6.00 Uhr unregelmäßig geleistete Arbeit.
3. Nachtschichtarbeit ist die in der Zeit von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr oder von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr auch im wöchentlichen Schichtwechsel geleistete regelmäßige Arbeit. Wechselschichtarbeit liegt dann vor, wenn der Arbeitstag in verschiedene Abschnitte - Schichten - eingeteilt wird.
Bei Dreiteilung entstehen hierdurch eine Frühschicht (1. Schicht), eine Spätschicht (2. Schicht) und eine Nachtschicht (3. Schicht);
bei Zweiteilung eine Frühschicht und eine Spätschicht bzw. eine Spät- und Nachtschicht bzw. eine Nach- und Frühschicht.
4. Sonn- und Feiertagsarbeit ist die an den Tagen zwischen 0.00 Uhr und 24.00 Uhr geleiste...