Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschluss der Nachwirkung von Tarifverträgen. Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags. Konkludenter Ausschluss der Nachwirkung eines Tarifvertrags
Leitsatz (redaktionell)
1. Grundsätzlich gilt, dass Tarifverträge nach ihrer Beendigung nachwirken. Die Tarifvertragsparteien können aber die Nachwirkung ausschließen, indem sie im Tarifvertrag selbst dessen Nachwirkung von vornherein ausschließen, befristen oder sachlich beschränken. Dieser Wille muss aber eindeutig und klar erkennbar und in Schriftform gefasst sein. Einer ergänzenden Tarifauslegung sind derartige Regelungen nicht zugänglich.
2. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können.
3. Das Bundesarbeitsgericht hält in einer Entscheidung vom 16. Mai 2012 - 4 AZR 366/10 - einen konkludenten Ausschluss der Nachwirkung durch die Tarifvertragsparteien für rechtlich zulässig. Man könne im Einzelfall aus den Interessen der Tarifvertragsparteien darauf schließen, auch wenn der regelnde Ausschluss der Nachwirkung seinen Niederschlag nicht in der Tarifurkunde selbst gefunden hat. Diese Entscheidung ist in der Literatur kritisiert worden und blieb auf den entschiedenen Einzelfall beschränkt.
Normenkette
TVG § 4 Abs. 5
Verfahrensgang
ArbG Rosenheim (Entscheidung vom 09.09.2021; Aktenzeichen 5 Ca 112/21) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Arbeitsgerichts Rosenheim - Kammer Traunstein - vom 09.09.2021, Az.: 5 Ca 112/21 abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen Anspruch des Klägers auf Zahlung der zweiten Hälfte des tariflichen 13. Monatseinkommen für das Kalenderjahr 2020.
Die Beklagte ist ein Unternehmen des Werkzeugmaschinenbaus und stellt unter anderem Fräsbearbeitungszentren, Bohrmaschinen und Gussprodukte her. Sie ist und war kein Mitglied in einem Arbeitgeberverband. Der Kläger ist seit 17.04.2001 als Industriemechaniker bei der Beklagten mit einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt € 4.250,55 beschäftigt. Er ist Vorsitzender des Betriebsrats.
Die Beklagte schloss mit der IG Metall Bayern den "Werktarifvertrag (Anerkennungstarifvertrag)" vom 12.03.2004 (Bl. 49 ff d.A.). Über den Werktarifvertrag finden insbesondere der Tarifvertrag über die Absicherung eines Teiles eines 13. Monatseinkommens vom 12.12.1996 (im Folgenden: TV 13; Bl. 6 d.A.) und der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der bayerischen Metall- und Elektroindustrie (im Folgenden: MTV) auf das gegenständliche Arbeitsverhältnis Anwendung. Der Werktarifvertrag war seinerseits erstmals kündbar zum 31.12.2006.
Gleichzeitig mit dem Werktarifvertrag wurde zwischen den Tarifvertragsparteien der Ergänzungstarifvertrag vom 12.03.2004 abgeschlossen, der gemäß seiner Ziffer II am 31.12.2006 "ohne Nachwirkung" enden sollte.
Am 20.12.2005 vereinbarten die Tarifvertragsparteien als Ablösung des Ergänzungstarifvertrages den Sanierungstarifvertrag, der eine erstmalige Kündigungsmöglichkeit zum 31.12.2008 vorsah und außerdem auch die erstmalige Kündigungsmöglichkeit des Werktarifvertrages zum 31.12.2008 regelte. Gemäß Ziffer IX Abs. 1 sollte der Tarifvertrag nach Beendigung keine Nachwirkung haben. Der Sanierungstarifvertrag sah außerdem in Ziffer VIII einen Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen vor und für den Fall des Ausspruchs solcher Kündigungen eine sofortige Beendigung des Tarifvertrages. Die Regelungen lauten auszugsweise:
"VIII. Beschäftigungsentwicklung
Während der Laufzeit dieses Sanierungstarifvertrages werden betriebsbedingte Beendigungskündigungen ausgeschlossen.
Sollten aus wirtschaftlichen Erwägungen betriebsbedingte Beendigungskündigungen notwendig werden, so endet dieser Sanierungstarifvertrag nach Ausspruch von betriebsbedingten Beendigungskündigungen mit sofortiger Wirkung. Eine Nachwirkung aus diesem Sanierungstarifvertrag entsteht nicht.
IX Inkrafttreten
Dieser Sanierungsvertrag tritt am 01.01.2006 in Kraft und endet ohne Nach wirkung am 31.12.2008."
Nachdem bis September 2008 noch keine Einigung über einen Folgetarifvertrag erzielt worden war, kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 29.09.2008 den Werktarifvertrag, um zu verhindern, dass dieser ohne den Zusatztarifvertrag Wirksamkeit behält.
Am 29.10.2008 wurde sodann der "Zukunftstarifvertrag" abgeschlossen, der in Ziffer VIII eine Nachwirkung vorsah und eine...