Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufungsbegründung bei mehreren rechtlichen Begründungen im angefochtenen Urteil. Unwirksamkeit einer Spätehenklausel in der Hinterbliebenenversorgung. Spätehenklausel und ungerechtfertigte Benachteiligung des Versorgungsempfängers. Mindestehedauer und Rückausnahme als angemessene Versorgungsregelung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Hinterbliebenenversorgung knüpft an das Todesfallrisiko an. Der Arbeitgeber hat ein berechtigtes Interesse daran, dieses nur solange abzusichern, wie es sich nicht bereits verwirklich hat, und damit objektive Versorgungsehen auszuschließen. Das berechtigt ihn, angemessene Fristen zwischen dem Zeitpunkt, der zum Eintritt der Risikoabsicherung führt, und dem Zeitpunkt, zu dem das Risiko eintritt, vorzusehen. Allerdings muss der Arbeitgeber zusätzliche die Möglichkeit für den Hinterbliebenen vorsehen nachzuweisen, dass sich trotz des Todes innerhalb der so festgelegten Frist das Risiko zu dem Zeitpunkt, als der Schutz der Versorgungsordnung eintrat, noch nicht konkretisiert hat (sog. Rückausnahme).

Eine Regelung in allgemeinen Geschäftsbedingungen oder in einer Betriebsvereinbarung ohne eine entsprechende Rückausnahme verstößt gegen das in § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 Abs. 2 AGG normierte Verbot der mittelbaren Benachteiligung wegen des Alters und ist damit gem. gemäß § 7 Abs. 2 AGG unwirksam, weil das Mittel zur Erreichung des Ziels - Ausschluss von Versorgungsehen - nicht angemessen und erforderlich i.S.d. § 3 Abs. 2 Halbs. 2 AGG ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Hat das Gericht die angefochtene Entscheidung auf mehrere voneinander unabhängige, selbstständig tragende rechtliche Erwägungen gestützt, muss der Berufungskläger in der Berufungsbegründung für jede dieser Erwägungen darlegen, warum sie nach seiner Auffassung die angegriffene Entscheidung nicht trägt; andernfalls ist das Rechtsmittel insgesamt unzulässig.

2. Eine Spätehenklausel in einer Hinterbliebenenversorgung, nach der die Ehe vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Mitarbeiters geschlossen sein muss, ist wegen Verstoßes gegen das in § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 Abs. 1 AGG normierte Verbot der unmittelbaren Benachteiligung wegen des Alters gemäß § 7 Abs. 2 AGG unwirksam.

3. Die Altersgrenze von 60 Jahren bei der Spätehenklausel führt zu einer übermäßigen Beeinträchtigung der legitimen Interessen der Versorgungsberechtigten, die - weil sie bei Eheschließung das 60. Lebensjahr vollendet hatten - von der Zusage einer Witwen-/Witwerversorgung vollständig ausgeschlossen werden. Indem die Versorgungsordnung auf die Vollendung des 60. Lebensjahres abstellt, knüpft sie auch nicht an ein betriebsrentenrechtliches Strukturprinzip an.

4. Die Regelung einer Mindestehedauer in einer Versorgungsordnung, wonach die Ehe vor dem Tod des Mitarbeiters (Anwärters) mindestens ein Jahr bestanden haben muss, verstößt gegen das in § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 Abs. 2 AGG normierte Verbot der mittelbaren Benachteiligung wegen des Alters gemäß § 7 Abs. 2 AGG. Um Versorgungsehen auszuschließen, ist die Regelung aber angemessen und erforderlich i.S.d. § 3 Abs. 2 AGG, wenn sie eine Rückausnahme für besondere, unterwartete und außergewöhnliche gesundheitliche Ereignisse vorsieht.

 

Normenkette

BetrVG § 1 Abs. 1 S. 1; AGG § 7 Abs. 1-2, §§ 1, 3 Abs. 2; RL 2000/78/EG Art. 1; AGG § 6 Abs. 1, § 10; ZPO § 520 Abs. 3 S. 2; Versorgungsordnung Nr. VII.1. Buchst. a) Fassung: 1983; Versorgungsordnung Nr. VII.1. Buchst. a) Fassung: 2002

 

Verfahrensgang

ArbG München (Entscheidung vom 13.07.2021; Aktenzeichen 18 Ca 304/21)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 21.11.2023; Aktenzeichen 3 AZR 44/23)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Arbeitsgerichts München - Kammer Ingolstadt - vom 13.07.2021, Az. 18 Ca 304/21, abgeändert und wie folgt gefasst:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin € 116.287,13 nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus

€ 4.827,61 seit dem 01.11.2018

€ 4.827,61 seit dem 01.12.2018

€ 4.827,61 seit dem 01.01.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.02.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.03.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.04.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.05.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.06.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.07.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.08.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.09.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.10.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.11.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.12.2019

€ 4.827,61 seit dem 01.01.2020

€ 4.827,61 seit dem 01.02.2020

€ 3.003,49 seit dem 01.03.2020

€ 3.003,49 seit dem 01.04.2020

€ 3.003,49 seit dem 01.05.2020

€ 3.003,49 seit dem 01.06.2020

€ 3.003,49 seit dem 01.07.2020

€ 3.003,49 seit dem 01.08.2020

€ 3.003,49 seit dem 01.09.2020

€ 3.003,49 seit dem 01.10.2020

€ 3.003,49 seit dem 01.11.2020

€ 3.003,49 seit dem 01.12.2020

€ 3.003,49 seit dem 01.01.2021

€ 3.003,49 seit dem 01.02.2021

€ 3.003,49 seit dem 01.03.2021

zu zahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, beginnend ab dem 01.04.2021 an die Klägerin eine monatliche Witwenrente in Höhe von € 3.003,49 zu zahlen, jeweils zum 1. des Folgemonats.

II. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagte 3/5 und di...

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