Entscheidungsstichwort (Thema)
Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers aus Art. 1 GG durch Videoüberwachung, -aufzeichnung und Datenauswertung. Anspruch des Arbeitnehmers auf Schutz vor Datenauswertung. Verbindliche zeitliche Befristung der Aufbewahrung von Videoaufzeichnungen des Arbeitgebers. Arbeitszeitkontrolle und Videoüberwachungsanlage. Beweisverwertungsverbot älterer Videoaufzeichnungen im Kündigungsschutzprozess
Leitsatz (amtlich)
1. Verpflichtet sich der Arbeitgeber in einer Betriebsvereinbarung, eine personenbezogene Auswertung von Daten, die er durch den Einsatz von Kartenlesegeräten gewonnen hat, nicht vorzunehmen, kann sich auch der einzelne Arbeitnehmer darauf berufen.
2. Erklärt der Arbeitgeber in einem Betriebskonzept oder auf einer Beschilderung einer Videoüberwachungsanlage, die hieraus gewonnenen Daten nur 96 Stunden lang aufzubewahren, kann ein Arbeitnehmer hierauf die berechtigte Privatheitserwartung stützen, dass der Arbeitgeber nur auf Videodateien Zugriff nehmen wird, die - bei erstmaliger Sichtung - nicht älter als 96 Stunden sind.
3. Zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten ist eine Videoüberwachungsanlage an den Eingangstoren eines Betriebsgeländes in der Regel weder geeignet noch erforderlich.
4. Der - erstmalige - Zugriff auf Videoaufzeichnungen, die mehr als ein Jahr zurückliegen, ist zum Zwecke der Aufdeckung eines behaupteten Arbeitszeitbetruges regelmäßig nicht angemessen. Solche Daten unterliegen im Kündigungsschutzprozess einem Beweisverwertungsverbot.
Leitsatz (redaktionell)
1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Arbeitszeitbetrug kann einen "wichtigen Grund" darstellen.
2. Die Verwertung der im Zuge der Videoüberwachung gewonnenen Erkenntnisse und Beweismittel des Arbeitgebers durch das Gericht würde einen Grundrechtsverstoß darstellen. Die seitens des Arbeitgebers durchgeführte Maßnahme ist nicht allein deshalb unzulässig, weil ihre Datenerhebung gegenüber anderen Beschäftigten rechtswidrig wäre, sie ist vielmehr gerade deshalb unzulässig, weil sie sachlich und zeitlich in erheblicher Weise in das Persönlichkeitsrecht (Art. 1 GG) des Klägers eingreift.
Normenkette
BDSG § 26 Abs. 1 S. 1, §§ 32, 4; GG Art. 1; DSGVO Art. 5; BGB § 626 Abs. 1; GewO § 109; KSchG § 9 Abs. 1 S. 3
Verfahrensgang
ArbG Hannover (Entscheidung vom 11.09.2020; Aktenzeichen 6 Ca 117/19) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 11.9.2020 - 6 Ca 117/19 - sowie ihr Auflösungsantrag werden auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit einer außerordentlichen und einer weiteren - hilfsweisen - ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung sowie über die Erteilung eines Zwischenzeugnisses.
Der am 00.00.1971 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit dem 00.00.00 zuletzt als Mitarbeiter im Bereich Gießerei beschäftigt. Seine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung hat das Arbeitsgericht auf der Grundlage des erstinstanzlichen Vortrages mit 8.900 Euro angenommen. Nach den Behauptungen der Beklagten in der zweitinstanzlichen Kammerverhandlung vom 06.07.2022 belief sich das Jahresgesamtbruttogehalt des Klägers ausweislich der der Beklagten vorliegenden Lohnabrechnung für Dezember 2018 auf 78.697,79 Euro, was durchschnittlich 6.558,15 Euro brutto monatlich entspricht.
Auf den Betrieb der Beklagten findet das Kündigungsschutzgesetz Anwendung. Im Betrieb H., dem der Kläger zuzuordnen ist, ist ein Betriebsrat gebildet.
Die Beklagte betreibt ein Hinweisgebersystem, mittels dessen Arbeitnehmer unter Wahrung ihrer Anonymität Hinweise zu Unregelmäßigkeiten, auch und insbesondere betreffend das Verhalten anderer Arbeitnehmer, geben können. Wie aus einem Bericht der "Konzern Sicherheit Forensik" vom 07.06.2019 (Bl. 69 ff. d.A.) hervorgeht, habe es einen - dort datumsmäßig nicht näher spezifizierten - anonymen Hinweis gegeben, wonach mehrere Mitarbeiter aus dem Bereich der Gießerei H., darunter der Kläger, regelmäßig Arbeitszeitbetrug begingen.
Mit Schreiben vom 21.06.2019 (Bl. 62 d.A.) erteilte die Beklagte dem Kläger eine von ihr so bezeichnete "Verwarnung" mit dem Vorwurf, der Kläger habe am 07.04.2019 seinen Arbeitsplatz unerlaubt vorzeitig verlassen. Dieses Schreiben ging dem Kläger am 04.09.2019 zu.
Am 00.00.0000 befragten die Mitarbeiter F. und B. der Abteilung Werksicherheit der Beklagten den Kläger zum Vorwurf eines Arbeitszeitbetruges und fertigten hierüber ein Protokoll, das der Kläger mit "gelesen und unterschrieben" gegenzeichnete...