Entscheidungsstichwort (Thema)

Verhältnismäßigkeitsprüfung bei außerordentlicher Kündigung. Unzulässige Flugblattverteilung auf dem Werksgelände trotz Haus- bzw. Werksverbots. Auflösungsantrag des Arbeitgebers und Schutz des Wahlbewerbers zur Betriebsratswahl

 

Leitsatz (amtlich)

1. Einzelfallentscheidung zu einer außerordentlichen hilfsweise ordentlich ausgesprochenen verhaltensbedingten Kündigung.

2. Zur Berücksichtigung des Kündigungsschutzes von Wahlbewerbern bei arbeitgeberseitigem Auflösungsantrag und Auflösungsgründen, die nach Eintreten des besonderen Kündigungsschutzes entstanden sind und mit der Betriebsratswahl im Zusammenhang stehen.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Da ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung i.S.d. § 626 BGB nicht nur die objektive und rechtswidrige Verletzung einer bestehenden Pflicht voraussetzt, sondern darüber hinaus auch ein schuldhaftes, vorwerfbares Verhalten des Arbeitnehmers, sind für die erforderliche Interessenabwägung insbesondere der Grad des Verschuldens sowie eine mögliche Wiederholungsgefahr, die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf und ferner auch das Gewicht und die Auswirkungen der Pflichtverletzung von Bedeutung.

2. Eine unzulässige Flugblattverteilung trotz Haus- bzw. Werksverbots kann eine fristlose Kündigung "an sich" rechtfertigen. Denn arbeitsvertraglich ist der Arbeitnehmer verpflichtet, die Eigentumsrechte des Arbeitgebers zu beachten. Auch liegt ein bewusster und vorsätzlicher Verstoß gegen Vorschriften der Arbeitsordnung vor.

3. Die Vorschriften des § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG i.V.m. § 103 BetrVG über den besonderen Kündigungsschutz für Wahlbewerber sind jedenfalls dann leges speciales gegenüber dem Auflösungsantrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG, wenn der Auflösungsantrag auf ein Verhalten des Arbeitnehmers nach Erlangung des Status als Wahlbewerber für die Betriebsratswahl gestützt wird. Der Bestand des Arbeitsverhältnisses ist deshalb nach den Vorstellungen des Gesetzgebers nicht nur im eigentlichen Kündigungsverfahren, sondern auch im Auflösungsverfahren nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG in den Grenzen des Vertretbaren zu schützen.

 

Normenkette

BGB § 626 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1, § 15 Abs. 3 S. 1, § 9 Abs. 1 S. 2; BGB § 241 Abs. 2; BetrVG § 77 Abs. 4, § 103

 

Verfahrensgang

ArbG Braunschweig (Entscheidung vom 23.10.2020; Aktenzeichen 1 Ca 261/19)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 27.09.2022; Aktenzeichen 2 AZR 92/22)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 23.10.2020 (1 Ca 261/19) wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung sowie einen arbeitgeberseitigen Auflösungsantrag.

Der am 20.08.1990 geborene, ledige und niemandem zum Unterhalt verpflichtete Kläger absolvierte ab 01.09.2008 im A-Stadt-Konzern eine Ausbildung zum Elektroniker für Automatisierungstechnik. Anschließend beschäftigte ihn die Rechtsvorgängerin der Beklagten, bei der er seit 2011 Mitglied der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) war, als Elektroniker in Vollzeit weiter. Seit 01.04.2014 besteht das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten, die regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer in Vollzeit beschäftigt.

Bei der Beklagten ist ein Betriebsrat gebildet, dem der Kläger vom 01.04.2014 bis 31.03.2018 angehörte.

Mit Schreiben vom 02.06.2014 (Anlage B1, Bl. 399 d. A.) mahnte die Beklagte den Kläger mit der Begründung ab, dieser habe am 30.04.2014 im Rahmen eines Gesprächs plötzlich und ohne Vorwarnung zu schreien angefangen, stark auf die Theke geschlagen und dieses Verhalten durch aggressiven Tonfall und Gesichtsausdruck unterstrichen. Im Rahmen eines Vergleichs im Rechtsstreit 2 Ca 312/14 ArbG Braunschweig verpflichtete sich die Beklagte, die Abmahnung mit dem 31.05.2015 ersatzlos aus der Personalakte des Klägers zu entfernen.

Mit Schreiben vom 28.02.2017 mahnte die Beklagte den Kläger mit der Begründung ab, dieser habe auf insgesamt 5 Belegschaftsversammlungen gleichlautend und unzutreffend behauptet, es sei eine ominöse Einstellung des Sohnes eines Betriebsratsmitglieds erfolgt, ohne dass dieser die erforderliche Eignung für die Position gehabt habe; Kinder von Betriebsratsmitgliedern seien nach ihrer Ausbildung in ein Arbeitsverhältnis übernommen worden, obwohl sie gesundheitlich dazu nicht geeignet gewesen seien. In dem daraufhin geführten Abmahnungsprozess (1 Ca 86/17 ArbG Braunschweig) urteilte das LAG Niedersachsen am 30.05.2018 (2 Sa 970/17) rechtskräftig, dass diese Abmahnung aus der Personalakte des Klägers zu entfernen ist.

Die Beklagte kündigte dem Kläger mit Schreiben vom 06.03.2017, 04.07.2017 und 23.08.2018. Zusammen mit der ersten Kündigung erteilte sie dem Kläger ein "Werks- und/oder Hausverbot" (Anlage B 1, Bl. 37 d. A.). In den arbeitsgerichtlichen Klageverfahren 1 Ca 115/17 (betreffend die Kündigung vom 06.03.2017) und 1 Ca 291/17 ...

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