Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückwirkende Abänderung tariflicher Ansprüche durch Tarifregelung unter Beachtung der Grundsätze des Vertrauensschutzes. Parallelentscheidung zu LAG Niedersachsen 6 Sa 24/22 v. 21.11.2022

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Rechtscharakter einer von den Tarifvertragsparteien vereinbarten Protokollnotiz ist im Wege der Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln.

2. Die Tarifvertragsparteien können selbst geschaffene Ansprüche unter Beachtung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung von Gesetzen nachträglich abbedingen.

3. Einzelfallentscheidungen zu Ansprüchen eines Flugkapitäns aus einem Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung für Mitarbeiter des Cockpitpersonals in Übereinstimmung mit der Entscheidung des LAG Düsseldorf vom 16.08.2021 - 8 Sa 505/20 - (Revision BAG 5 AZR 27/22).

4. Die Tarifvertragsparteien können bei der Herausnahme von Normunterworfenen aus dem Geltungsbereich eines belastenden Tarifvertrages danach differenzieren, ob diese einen Aufhebungsvertrag im Rahmen einer Betriebsänderung oder davor vereinbart haben.

 

Normenkette

BGB §§ 126, 133, 157; GG Art. 3; TVG § 1 Abs. 2, § 4 Abs. 3; GG Art. 9 Abs. 3; BGB § 611a Abs. 2; MTV Cockpitpersonal Nr. 4 v. 01.11.2016 § 15 Abs. 14

 

Verfahrensgang

ArbG Hannover (Entscheidung vom 25.11.2021; Aktenzeichen 2 Ca 84/21)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts D-Stadt vom 25.11.2021 - 2 Ca 84/21 - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über tarifliche Ansprüche des Klägers auf Vergütung von nicht abgerufenen Standby-Diensten sowie eine lineare Gehaltserhöhung vom 01.01.2018 bis 28.02.2021.

Die Beklagte ist eine aus der früheren H.Fluggesellschaft mbH hervorgegangene, international agierende Fluggesellschaft mit Sitz in C-Stadt, welche zum Konzernverbund der T. AG gehört. Sie beschäftigte (Stand 16.04.2021) 2.151 Mitarbeiter, von denen 527 dem Cockpitpersonal angehörten.

Der am 01.01.0000 geborene Kläger ist seit dem 14.02.2000 zuletzt als Kapitän bei der Beklagten beschäftigt. Seine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung beträgt in Vollzeit 12,600,00 €.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die zwischen der Vereinigung Cockpit e.V. (im Folgenden: VC) und der Beklagten abgeschlossenen Tarifverträge Anwendung. Der Kläger ist Mitglied des VC.

In § 15 Abs.14 des Manteltarifvertrages Nr. 4 für das Cockpitpersonal der C. vom 01.11.2016 (im Folgenden: MTV Nr. 4, vgl. 36 d. A.) ist geregelt:

"Nicht abgerufene Standby Dienste werden wertmäßig mit jeweils 2 Mehrflugstunden (in erster Stufe des jeweils gültigen VTV; jeweils für First Officer bzw. Captain) vergütet".

Am 23.11.2017 schloss die Beklagte mit dem VC eine Tarifvereinbarung (im Folgenden: TV 2017, vgl. Bl. 29 - 34 d. A.), die u.a. nachstehende Regelungen beinhaltet:

"I. Betrieb von 39 Flugzeugen

1.

Ab dem Sommerflugplan 2018 werden mindestens 35 Flugzeuge vom Typ Boeing 737 von T. betrieben, wobei bis maximal 7 der 35 Flugzeuge im Wet-Lease an Dritte vermarktet werden. Ab Sommerflugplan 2019 werden, für die verbleibende Laufzeit dieser Vereinbarung (bis zum 31.12.2020), insgesamt mindestens 39 Flugzeuge vom Typ Boeing 737 von der T. betrieben, wobei bis zu maximal 7 der 39 Flugzeuge im Wet-Lease an Dritte vermarktet werden.

Zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen gilt die Mindestanzahl von 35 Flugzeugen für folgende Zeiträume:

- 01.05.2018 bis 31.10.2018

Zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen gilt die Mindestanzahl von 39 Flugzeugen für folgende Zeiträume:

- 01.05.2019 bis 31.10.2019

- 01.05.2020 bis 31.10.2020

...

2.

Der unter Ziffer 1. beschriebene Betrieb von mindestens 35 Flugzeugen in dem Jahr 2018 und 39 Flugzeugen ab dem Jahr 2019 samt den dort aufgeführten Regelungen betreffend der saisonalen Schwankungen sowie der Verfahren zum Phase-in/Phase-out stellt bindende Geschäftsgrundlage und ist die Voraussetzung für die nachfolgend aufgeführten Maßnahmen dar. ...

II.

Vergütungstarifvertrag

1.

Bei dem zum 01.Januar 2018 in Kraft tretenden Vergütungstarifvertrag Nr.6 vom 28.September (nachfolgend VTV Nr.6) kommt die vereinbarte Vergütungserhöhung von 2,5 % nicht zur Anwendung. Zur Klarstellung wird darauf hingewiesen, dass damit die derzeit angewandten Gehaltstabellen von 2017 sowie die Tabellen zur Mehrflugstunden-Vergütung von 2017 gemäß Anlage I des Vergütungstarifvertrages Nr.5 vom 30.April 2014 (nachfolgend VTV Nr.5) in der Zeit bis 31.12.2018 zur Anwendung kommen (Anlage 1)....

III. Manteltarifvertrag

3.

Die zum 1. November 2016 in § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 eingeführte Bezahlung für nicht abgerufene Standby Dienste wird zum 31. Dezember 2017 ersatzlos gestrichen. Die Tarifvertragsparteien sind sich darüber einig, dass im Rahmen der MTV-Verhandlungen eine neue Standbyregelung verhandelt wird. ...

IV. Unterschreitung der Anzahl an Flugzeugen

1.

Sobald der unter I. Ziffer 1 geregelte Betrieb der vereinbarten Mindestanzahl (35 Flugzeuge im Jahr 2019 und...

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