Entscheidungsstichwort (Thema)
Unverschuldetes Versäumen einer Rechtsmittelfrist. Schutz des Existenzminimums bei Pfändung oder Insolvenz. Erschwerniszulage i.S.d. § 850a Nr. 3 ZPO. Corona-Prämie als Erschwerniszulage i.S.d. § 850a Nr. 3 ZPO
Leitsatz (amtlich)
Corona-Prämien, die einem Arbeitnehmer in der Gastronomie vom Arbeitgeber zusätzlich zum geschuldeten Arbeitslohn gezahlt werden, können aufgrund ihrer Zweckbestimmung auch unter Berücksichtigung der Gläubigerinteressen als unpfändbare Erschwerniszuschläge gem. § 850 a Nr. 3 ZPO qualifiziert werden.
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein durch Bedürftigkeit begründetes Unvermögen einer Partei, einen Rechtsanwalt mit der notwendigen Vertretung zur Vornahme fristwahrender Prozesshandlungen zu beauftragen, begründet eine unverschuldete Versäumung von Rechtsmittelfristen, wenn die Partei alles in ihren Kräften Stehende und Zumutbare getan hat, um die Frist zu wahren. Der Partei ist deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
2. Das Existenzminimum des Schuldners unterliegt nicht dem Zugriff der Gläubiger. Gem. § 36 Abs. 1 S. 2 InsO gehören unpfändbare Forderungen nicht zur Insolvenzmasse. Sie sind dem Insolvenzverwalter nicht nach § 148 Abs. 1 i.V.m. § 80 Abs. 1 InsO zur Verwaltung übertragen. Nur der pfändbare Teil des Arbeitsentgelts fällt in die Insolvenzmasse und kommt in der Privatinsolvenz dem Gläubiger zugute.
3. Im Rahmen einer Gesetzesauslegung erfasst der Begriff der Erschwerniszulage in § 850a Nr. 3 ZPO auch eine besondere Belastung bei der Arbeitsleistung. Dazu gehören auch die Umstände, die für die Gesundheit des Arbeitnehmers nachteilig sind und Maßnahmen zum Schutz und zur Sicherheit des Arbeitnehmers erfordern.
4. Eine an eine Küchenhilfe und Thekenkraft gezahlte Corona-Prämie soll einen Ausgleich für die erschwerten Arbeitsumstände in den ersten Monaten der Pandemie geben. Denn es gab zum damaligen Zeitpunkt weder wirksame Medikation bei einer Erkrankung noch bestand die Möglichkeit, sich impfen zu lassen. Die Arbeitsleistung der Küchenhilfe und Thekenkraft war durch die Gesamtumstände (AHA-Regeln, Maske, Schutzkleidung, Angst vor Ansteckung) mit besonderen körperlichen und psychischen Belastungen verbunden. Diese Situation entspricht dem Gedanken der Erschwerniszulage des § 850a Nr. 3 ZPO. Die Corona-Prämie ist deshalb unpfändbar und dem Zugriff des Gläubigers und/oder Insolvenzverwalters entzogen.
Normenkette
EStG § 3 Nr. 11a; InsO § 36 Abs. 1; SGB IX § 150 Abs. 1; ZPO § 850a Nr. 3, §§ 234, 236 Abs. 2; InsO § 80 Abs. 1, § 148 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Braunschweig (Entscheidung vom 10.03.2021; Aktenzeichen 4 Ca 515/20) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 10.03.2021 - 4 Ca 515/20 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um den Insolvenzbeschlag bzw. die Pfändbarkeit einer vom Beklagten an seine Mitarbeiterin gezahlte Corona-Prämie.
Die Klägerin ist mit Beschluss des Amtsgerichts C-Stadt vom 19.08.2015 zur Insolvenzverwalterin über das Vermögen von Frau M. bestellt worden. Diese war bei dem Beklagten ausweislich des schriftlichen Arbeitsvertrages (Bl. 10 und 11 dA) befristet in dem Zeitraum vom 01.07. bis 31.12.2020 als Küchenhilfe beschäftigt. Im September 2020 zahlte der Beklagte an Frau M. neben dem Festlohn von 1.350,00 Euro brutto und Sonntagszuschlägen von 66,80 Euro brutto eine Corona-Unterstützung in Höhe von 400,00 Euro.
Ausgehend von einem pfändungsrelevanten Nettoverdienst im September 2020 (Festlohn zzgl. Corona-Unterstützung ohne Sonntagszuschläge) in Höhe von 1.440,47 Euro netto errechnete die Klägerin einen pfändbaren Betrag in Höhe von 182,90 Euro netto. Mit Schreiben vom 22.10.2020 forderte sie den Beklagten auf, diesen Betrag bis spätestens zum 05.11.2020 an sie abzuführen. Das lehnte der Beklagte mit E-Mail vom 29.10.2020 mit der Begründung ab, die Corona-Sonderzahlung sei unpfändbar.
Mit ihrer am 21.12.2020 beim Arbeitsgericht B. eingegangenen Klage begehrt die Klägerin vom Beklagten weiter die Zahlung des nach ihrer Auffassung pfändbaren Betrages in Höhe von 182,99 Euro.
Erstinstanzlich hat die Klägerin die Auffassung vertreten, die Corona-Unterstützung sei pfändbar. Anders als im Pflegebereich, wo der Gesetzgeber nach § 150 a Abs. 8 Satz 4 SGB IX ausdrücklich die Unpfändbarkeit der Corona-Prämie geregelt habe, habe der Gesetzgeber hinsichtlich der Corona-Unterstützung geregelt, dass diese bis zwar zu einer Höhe von 1.500,00 Euro steuer- und abgabenfrei nicht jedoch, dass diese auch unpfändbar sei. Die Corona-Unterstützung könne auch nicht als Erschwerniszulage iSd. § 850 a Nr. 3 ZPO qualifiziert werden. Ihr Zweck bestehe allein darin, die besondere unverzichtbare Leistung der Beschäftigten in der Corona-Krise anzuerkennen, und sei mithin eine Art Treueprämie. Sie knüpfe nicht an eine besondere Erschwerni...