Revisionszulassung: nein

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Auswahlrichtlinie. Punkteschema. grobe Fehlerhaftigkeit. Altersdiskriminierung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Auswahlrichtlinie gemäß § 95 BetrVG, die bei der Bewertung der für die Sozialauswahl zugrunde zu legenden Kriterien bei der Betriebszugehörigkeit und beim Lebensalter Zeiten nach Vollendung des 55. Lebensjahres nicht berücksichtigt, verstößt nicht gegen § 75 Abs. 1 Satz 2 BetrVG. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Richtline des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung und Beschäftigung und Beruf (RL 00/78/EG). Eine solche Bewertung dient dem legitimen Ziel, solchen älteren, rentennahen Arbeitnehmern ein verhältnismäßig höheres Kündigungsrisiko zuzumuten, die bei typisierender Betrachtung wegen ihrer sozialversicherungsrechtlichen Absicherung von einer Kündigung wirtschaftlich weniger hart als jüngere Arbeitnehmer getroffen werden.

2. Eine solche Bewertung der sozialen Gesichtspunkte ist auch nicht völlig unausgewogen und damit nicht grob fehlerhaft i.S. von § 1 Abs. 4 KSchG.

3. Seit Einführung des § 1 Abs. 4 KSchG durch das Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25.09.1996 ist Voraussetzung für die Wirksamkeit von Auswahlrichtlinien nicht mehr, dass der Arbeitgeber Raum für eine abschließende Berücksichtigung individueller Besonderheiten haben muss. Der Arbeitgeber ist lediglich dann berechtigt und zugleich verpflichtet, eine Auswahlentscheidung vorzunehmen, wenn zwei Arbeitnehmer denselben Punktestand aufweisen oder ein krasser Ausnahmefall wie dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen eines nach der Auswahlrichtlinie zu kündigenden Arbeitnehmers vorliegt.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 4; BetrVG § 75 Abs. 1 S. 2; RL 00/78/EG

 

Verfahrensgang

ArbG Osnabrück (Urteil vom 06.11.2003; Aktenzeichen 2 Ca 322/03)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 06.11.2003 – 2 Ca 322/03 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung und um Weiterbeschäftigung des Klägers.

Der am 08.03.1960 geborene Kläger ist seit dem 12.01.1987 bei der Beklagten als Kraftfahrer beschäftigt. Die Beklagte stellt Möbel her. Ein Betriebsrat besteht. Im Juni 2003, dem Zeitpunkt der Kündigung, beschäftigte sie 173 Arbeitnehmer, darunter 13 Fahrer, mit denen sie einen eigenen Fuhrpark von 10 LKW unterhielt. Anfang Juni 2003 traf die Beklagte die unternehmerische Entscheidung, nur noch die Hauptstrecken mit eigenen Fahrern auf eigenen LKWs zu betreiben und die Nebenstrecken zukünftig von Speditionen bedienen zu lassen. Deshalb sollte die Zahl der LKWs auf 5 und die der Fahrer auf 8 reduziert werden. Mit Schreiben vom 27.06.2003 kündigte sie die Arbeitsverhältnisse des Klägers sowie der weiteren Fahrer G., Sp., M. und S. Anfang 2004 legte sie 4 Zugfahrzeuge vorübergehend still, veräußerte ein weiteres Zugfahrzeug an eine P. Möbelfirma und legte 14 Auflieger vorübergehend still.

Die Beklagte bezog alle 13 bei ihr beschäftigten Fahrer in die zu treffende Sozialauswahl ein. Sie orientierte sich dabei an einer am 01.10.1997 Abgeschlossenen Betriebsvereinbarung, auf deren Inhalt (Bl. 31 d. A.) Bezug genommen wird. Diese Betriebsvereinbarung berücksichtigt die Betriebszugehörigkeit lediglich bis zum 55. Lebensjahr, wobei pro Jahr der Betriebszugehörigkeit ab dem 15. Lebensjahr 2 Punkte, insgesamt somit maximal 80 Punkte, verge ben werden. Für jedes vollendete Lebensjahr ist 1 Punkt vorgesehen, maximal 55 Punkte. Die Beklagte wandte diese Betriebsvereinbarung modifiziert an, indem sie auch die Jahre der Betriebszugehörigkeit nach Vollendung des 55. Lebensjahres berücksichtigte, also keine Kappung mit dem 55. Lebensjahr vornahm. Unter Zugrundelegung der aus den Lohnsteuerkarten der Arbeitnehmer ersichtlichen Sozialdaten erstellte sie zum Stichtag 30.06.2003 nach diesen Maßstäben eine Rangliste der zu kündigenden Arbeitnehmer, auf die Bezug genommen wird (Bl. 32 d. A.). Die Lohnsteuerkarte des Klägers wies die Steuerklasse III und 2 Kinderfreibeträge aus. Für den Kläger errechnete die Beklagte – ausgehend von einer Betriebszugehörigkeit von 16 Jahren, einem Lebensalter von 43 Jahren und Unterhaltspflichten für seine Ehefrau und zwei Kinder – 91 Punkte. Der Arbeitnehmer W. wies – ausgehend von einer Betriebszugehörigkeit von 14 Jahren, einem Lebensalter von 60 Jahren und der Lohnsteuerklasse III – ebenfalls 91 Punkte auf. Auch der Arbeitnehmer S. hatte danach 91 Sozialpunkte. Tatsächlich war – wie in der Berufungsinstanz unstreitig geworden ist – der Kläger am 30.06.2003 vier Kindern, darunter zwei volljährigen Schülern, die noch in seinem Haushalt lebten, zum Unterhalt verpflichtet. Der Arbeitnehmer W. war – wie die Beklagte im Rahmen des nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils eingeleiteten Anhörungsverfahrens zur beabsichtigten Kündigung des Arbeitnehmers W. erfahren hat –...

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