Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifliches Urlaubsregime für den tariflichen Mehrurlaub. Gesetzlicher Mindesturlaub und die Rechtsprechung des EuGH und des BAG. Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien. Urlaubsanspruch nur nach tatsächlich geleisteter Arbeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Tarifvertragsparteien haben grundsätzlich die Dispositionsfreiheit, Urlaubsansprüche, die den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigen, nach ihrem Ermessen zu regeln. Die Regelungen des BUrlG finden in diesem Bereich nur insoweit Anwendung, als die Tarifvertragsparteien von der ihnen zustehenden Regelungsmacht keinen Gebrauch machen.
2. Auch die zur Urlaubsrichtlinie 2003/88/EG ergangene Rechtsprechung des EuGH und die Rechtsprechung des BAG zum BurlG betreffen nur den gesetzlichen Mindesturlaub.
3. Den Tarifvertragsparteien kommt als selbständigen Grundrechtsträgern aufgrund der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Wie weit dieser Spielraum reicht, hängt von den Differenzierungsmerkmalen im Einzelfall ab. Den Tarifvertragsparteien steht hinsichtlich der tatsächlichen Gegebenheiten und der betroffenen Interessen eine Einschätzungsprärogative zu. Sie sind nicht verpflichtet, die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen.
4. Die Tarifvertragsparteien können den über die Gewährung des gesetzlichen Mindesturlaubs zzgl. des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen hinausgehenden Anspruch auf Mehrurlaub (übergesetzlicher Urlaub) zulässigerweise von der Erbringung tatsächlicher Arbeitsleistung abhängig machen.
Normenkette
RL 2003/88/EG Art. 1; GG Art. 9 Abs. 3; SGB IX § 208; BUrlG §§ 3, 5 Abs. 1 Buchst. c); MTV Metall- und Elektroindustrie Niedersachsen Bezirk Küste § 10 Nr. 4
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers und unter Zurückweisung seiner Berufung im Übrigen wird das Urteil des Arbeitsgerichts D-Stadt vom 18.1.2021 - 4 Ca 319/20 teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Urlaubsabgeltung und Urlaubsgeld in Höhe von 6.246,75 Euro brutto nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1.4.2020 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger 13/28tel und die Beklagte 15/28tel.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Frage, ob die Beklagte dem Kläger weitere Urlaubsabgeltung zu zahlen hat.
Der am 14.07.1954 geborene Kläger war bei der Beklagten in der Zeit vom 07.11.1988 bis zum 31.03.2020 zuletzt mit einem Bruttogehalt von 6.038,50 € beschäftigt. Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch anerkannt.
Am 06.11.2019 trafen die Parteien eine "Freistellungsvereinbarung im Rahmen des Lebensarbeitszeitkontos - Airbus Group Invest for Life Wertkontensystem zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit" (Bl. 9, 10 dA). In dieser Vereinbarung ist geregelt, dass der Kläger für den gesamten Monat März 2020 unwiderruflich von der Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt wird, und dass dies gem. den Regelungen der Wertguthabenvereinbarung in Form einer vollständigen Freistellung von der Arbeitspflicht im Rahmen des vorzeitigen Ruhestandes ("Modell zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit") erfolgt. Gem. Ziff. 3 der Vereinbarung erhält der Kläger in der Zeit der Freistellung ein Entgelt iHv. 6.055,42 € brutto. Das monatliche Entgelt wird aus dem angesammelten Arbeitsentgeltguthaben des Klägers entnommen und verändert sich nicht durch etwaige Tariferhöhungen während der Freistellungsphase.
In der Zeit vom 26.11.2019 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses war der Kläger durchgängig arbeitsunfähig erkrankt.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Manteltarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie Niedersachsen Bezirk Küste (im Folgenden: MTV Metallindustrie) Anwendung. Dieser sieht in § 10 vor:
"§ 10
Erholungsurlaub
1. Urlaubsanspruch
Der Beschäftigte hat in jedem Kalenderjahr einen unabdingbaren Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub
Das Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr.
Der Urlaub für Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr richtet sich - mit Ausnahme der Urlaubsdauer - nach den Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes in seiner jeweiligen Fassung.
2. Urlaubsdauer
Der Urlaub beträgt jährlich 30 Arbeitstage.
Arbeitstage sind alle Kalendertage, an denen der Beschäftigte in regelmäßiger Arbeitszeit zu arbeiten hat. Auch wenn die regelmäßige Arbeitszeit auf mehr oder weniger als 5 Tage in der Woche - ggf. auch im Durchschnitt mehrerer Wochen - verteilt ist, gelten fünf Tage je Woche als Arbeitstage.
Gesetzliche Feiertage, die in den Urlaub fallen, werden nicht als Urlaubstage gerechnet.
Beschäftigte in Betrieben, in denen in regelmäßiger Wechselschicht oder vollkontinuierlich gearbeitet wird, sowie Teilzeitbeschäftigte haben unter Beachtung der jeweiligen Schichtpläne einen Urlaubsanspruch, der dem Urlaub eines Beschäftigten entspr...