Entscheidungsstichwort (Thema)
Errichtung und Besetzung einer Einigungsstelle im Rahmen der Erstellung eines Sozialplans wegen einer betriebsbedingten Kündigung
Leitsatz (redaktionell)
1. § 100 ArbGG liegt ein Beschleunigungszweck zugrunde, sodass bei Meinungsverschiedenheiten in einer beteiligungspflichtigen Angelegenheit möglichst rasch eine Einigungsstelle zur Verfügung stehen soll, um den Konflikt zu regeln. Im Hinblick auf das erforderliche Rechtsschutzinteresse muss der Verhandlungsanspruch vor Einleitung des Verfahrens nach § 100 ArbGG nicht objektiv erschöpft sein. Es reicht aus, wenn eine Betriebspartei nach ihrer nicht offensichtlich unbegründeten subjektiven Einschätzung aufgrund des bisherigen Verhaltens der Gegenseite die weiteren Erörterungen für aussichtslos hält. Das Rechtsschutzinteresse für die gerichtliche Bestellung entfällt auch nicht, wenn die Gegenseite erst während des Beschlussverfahrens überhaupt Verhandlungsbereitschaft signalisiert.
2. Von einer offensichtlichen Unzuständigkeit der Einigungsstelle iSd. § 100 Abs. 1 Satz 2 ArbGG ist nur dann auszugehen, wenn bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht sofort erkennbar ist, dass ein Mitbestimmungsrecht des Gesamtbetriebsrats in der fraglichen Angelegenheit unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt in Frage kommt, etwa weil das Mitbestimmungsrecht offensichtlich nicht dem Gesamtbetriebsrat, sondern dem örtlichen Betriebsrat bzw. den örtlichen Betriebsräten - oder umgekehrt - zustehen kann.
Normenkette
AEUV Art. 267 Abs. 3; ArbGG § 100; BetrVG § 50 Abs. 1 S. 1, Abs. 1; AEUV Art. 267
Verfahrensgang
ArbG Koblenz (Entscheidung vom 14.08.2024; Aktenzeichen 12 BV 26/24) |
Tenor
Die Beschwerde des Gesamtbetriebsrats gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Koblenz vom 14. August 2024, Az. 12 BV 26/24, wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten in einem Verfahren nach § 100 ArbGG über die Errichtung und Besetzung einer Einigungsstelle.
Die antragstellenden Arbeitgeberinnen (Beteiligte zu 1 und 2) betreiben ein Unternehmen, das sich mit Herstellung und Vertrieb von Kunststofffolien beschäftigt. Die Beteiligte zu 1) ist die Komplementärin der Beteiligten zu 2). An den Standorten U. (Westerwald) und Y. (Oberbayern) besteht jeweils ein Gemeinschaftsbetrieb. In U. werden rund 680 Arbeitnehmer, in Y. rund 320 Arbeitnehmer (Stand: 30.06.2024) beschäftigt. An jedem Standort wurde ein gemeinsamer örtlicher Betriebsrat gewählt; Beteiligter zu 3) ist der errichtete Gesamtbetriebsrat. Ferner besteht ein Wirtschaftsausschuss. Der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats ist auch Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses.
Am 29. April 2024 unterrichtete die Geschäftsführung sowohl den Gesamtbetriebsrat als auch den Wirtschaftsausschuss darüber, dass bei den beteiligten Arbeitgeberinnen eine Restrukturierung geplant sei. Das unternehmerische Konzept beinhalte insbesondere einen Personalabbau in den Betrieben U. und Y.. Die Umsetzung dieser geplanten unternehmerischen Entscheidung stelle in beiden Betrieben jeweils eine Betriebsänderung iSv. § 111 BetrVG dar. Die Arbeitgeberinnen forderten den Gesamtbetriebsrat auf, innerbetriebliche Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans aufzunehmen. In der Folge fanden mehrere Präsentations- und Unterrichtungstermine mit Gesamtbetriebsrat und Wirtschaftsausschuss statt. Die Arbeitgeberinnen teilten ua. mit, dass vom geplanten Personalabbau 65 Arbeitnehmer am Standort U. und 63 Arbeitnehmer am Standort Y. betroffen seien. Gesamtbetriebsrat und Wirtschaftsausschuss forderten von den Arbeitgeberinnen eine Vielzahl von Auskünften und die Vorlage von Unterlagen. Die Arbeitgeberinnen beantworteten über 100 Fragen. Am 24. Mai und 13. Juli 2024 fanden Informations- und Beratungstermine mit dem Wirtschaftsausschuss statt. Den geplanten Unterrichtungs- und Verhandlungstermin mit dem Gesamtbetriebsrat am 27. Juni 2024 sagte dessen Bevollmächtigte mit E-Mail vom 26. Juni 2024 mit der Begründung ab, aufgrund der kurzfristigen Übersendung weiterer Unterlagen mache der Termin keinen Sinn. In Vorbereitung auf den weiteren Unterrichtungs- und Verhandlungstermin mit dem Gesamtbetriebsrat am 25. Juli 2024 übersandte der Bevollmächtigte der Arbeitgeberinnen mit E-Mail vom 16. Juli 2024 Entwürfe für einen Interessenausgleich samt Namensliste, einen Sozialplan, eine Betriebsvereinbarung Freiwilligenprogramm, eine Betriebsvereinbarung Klageverzicht sowie den Entwurf einer Verhandlungsvereinbarung. Im Termin am 25. Juli 2024 kam keine Einigung zustande. Der Gesamtbetriebsrat lehnte Verhandlungen mangels ausreichender Tatsachengrundlage und fehlender Informationen ab. Trotz mehrfacher Nachfrage erklärte er sich nicht dazu bereit, eine Rückmeldung zum Arbeitgeberangebot abzugeben. Am Ende des Termins erklärten die Vertreter der Arbeitgeberinnen die innerbetrieblichen Verhandlungen für gescheitert. Mit E-Mail vom 25. Juli 2024 übersandte sie dem Gesamtbetriebsrat die im Termin am 25. Juli 2024 vorgestellte...