Entscheidungsstichwort (Thema)
Satzungsautonomie eines tarifschließenden Arbeitgeberverbandes. Räumliche Geltung eines Tarifvertrags. Tarifzuständigkeit einer Spitzenorganisation
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Arbeitgeberverband kann aufgrund der ihm durch Art. 9 Abs. 3 GG verliehenen Satzungsautonomie in der Verbandssatzung seinen Organisationsbereich festlegen. Dabei kann er betriebs- und unternehmensbezogene, räumliche oder andere Kriterien als Abgrenzung des Organisationsbereichs auswählen.
2. Ein Arbeitgeberverband kann seine Tarifzuständigkeit in seiner Satzung räumlich festlegen, z.B. auf ein Bundesland. Liegt dann die Betriebsstätte eines Mitgliedsunternehmens außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs, findet der Tarifvertrag in der Betriebsstätte keine Anwendung. Denn die Tarifzuständigkeit richtet sich allein nach dem in der Satzung des Verbands festgelegten Organisationsbereich.
3. Eine Spitzenorganisation verfügt weder nach § 2 Abs. 2 TVG noch nach § 2 Abs. 3 TVG über eine originäre Tariffähigkeit. Die Spitzenorganisation kann zwar selbst Partei eines Tarifvertrags sein, sie wird dabei aber ausschließlich durch Bevollmächtigung für ihre Mitgliedsverbände tätig. Die Tarifzuständigkeit der Spitzenorganisation reicht nicht weiter als die Tarifzuständigkeit ihrer angeschlossenen Mitgliedsverbände.
Normenkette
TVG § 2 Abs. 3, § 3 Abs. 1; ZPO § 253 Abs. 2, § 520 Abs. 3, § 533; GG Art. 9 Abs. 3; TVG § 2 Abs. 1-2
Verfahrensgang
ArbG Koblenz (Entscheidung vom 02.03.2021; Aktenzeichen 6 Ca 3246/20) |
Tenor
- Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 2. März 2021, Az. 6 Ca 3246/20, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Frage, ob die überregionalen Tarifverträge der chemischen Industrie und die jeweiligen Bezirksentgelt-Tarifverträge Baden-Württemberg auf ihr Arbeitsverhältnis Anwendung finden sowie über sich daraus ergebende Zahlungsansprüche.
Der 1971 geborene Kläger war seit dem 1. Januar 2008 bei der Firma K. Kunststoffverarbeitung GmbH mit Sitz in Z-Stadt (Rheinland-Pfalz) als kaufmännischer Mitarbeiter im Vertriebsinnendienst beschäftigt. Arbeitsvertraglich wurde keine Bezugnahme auf ein Tarifwerk vereinbart. Der Betrieb ging zum 1. November 2019 im Wege eines Betriebsübergangs nach § 613a Abs. 1 BGB auf die Beklagte über, deren deutsche Zweigniederlassung ihren Sitz in C-Stadt (Baden-Württemberg) hat. Der Kläger ist nach seinem Vortrag seit dem 1. Februar 2020 Mitglied der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), was die Beklagte mit Nichtwissen bestreitet. Die Beklagte ist Mitglied des Arbeitgeberverbands Chemie Baden-Württemberg e.V. (AGV Chemie BW), der wiederum Mitglied im Bundesarbeitgeberverband Chemie e.V. (BAVC) ist.
Die Satzung des AGV Chemie BW vom 4. Juni 2013 lautet - auszugsweise - wie folgt:
"§ 1 Name, Sitz, Geschäftsjahr
1. Der Verband führt den Namen Arbeitgeberverband Chemie Baden-Württemberg e.V....
2. Sitz des Verbandes ist Baden-Baden.
3. Der Verband umfasst das Gebiet des Landes Baden-Württemberg.
...
§ 2 Zweck
1. Der Verband hat den Zweck, alle arbeitgeberbezogenen, beruflichen und sozialpolitischen Belange seiner Mitglieder zu wahren und auf den Gebieten der Gesellschafts- und Sozialpolitik sowie des Arbeits- und Sozialrechts die Interessen seiner Mitglieder zu fördern und zu vertreten.
2. In Erfüllung dieser Aufgaben schließt er insbesondere Tarifverträge mit den Gewerkschaften ab, ...
...
5. Der Verband kann Mitglied in anderen Vereinigungen sein, soweit dies der Förderung seiner satzungsmäßigen Zwecke entspricht.
§ 3 Mitgliedschaft
1. Bei der Mitgliedschaft ist zu unterscheiden zwischen der Mitgliedschaft
a) als Mitglied mit Taftbindung (T-Mitglieder) und
b) als Mitglied ohne Tarifbindung ... (OT-Mitglieder).
Die Wahl der Mitgliedschaftsform steht dem Mitglied frei.
2. Mitglied des Verbandes können alle in das Handelsregister eingetragenen Unternehmen (natürliche und juristische Personen) der chemischen oder einer verwandten Industrie werden, die ihren Sitz oder eine Betriebsstätte im Land Baden-Württemberg haben.
...
Auf Antrag eines Mitglieds, das seinen Sitz im Land Baden-Württemberg hat, kann sich die Mitgliedschaft auch auf eine außerhalb des Landes, aber in der Bundesrepublik Deutschland liegende Betriebsstätte erstrecken, wenn diese nicht in einem anderen Arbeitgeberverband Mitglied ist."
Im Unterrichtungsschreiben gem. § 613a Abs. 5 BGB über den Betriebsübergang vom 30. September 2019 heißt es in Ziff. 6:
"[Die Beklagte] ist Mitglied des Arbeitgeberverbandes Chemie Baden-Württemberg werden, so dass, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind, die entsprechenden Chemie-Tarifverträge Anwendung finden. Sie gelten kollektivrechtlich, wenn Sie Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft sind."
Der Manteltarifvertrag (MTV Chemie) vom 22. November 2019, den der BAVC mit dem Hauptvorstand der IG BCE abgeschlossen hat, lautet auszugsweise:
"§ 1 Geltungsbereich
Der Tarifvertrag...