Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine generelle Pflicht des Arbeitgebers zu vorsorglichem Hinweisen auf Zusatzurlaub für Schwerbehinderung. Pflicht zum Hinweis auf Zusatzurlaub bei konkreter Kenntnis von Schwerbehinderung des Arbeitnehmers

 

Leitsatz (amtlich)

Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, jeden Arbeitnehmer anlasslos und gleichsam prophylaktisch auf den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen hinzuweisen. Solange er nicht weiß, dass der Arbeitnehmer ein schwerbehinderter Mensch ist, braucht er einen Zusatzurlaub nicht anzubieten.

 

Normenkette

BUrlG § 7 Abs. 3-4; SGB IX § 208; ZPO § 91 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Trier (Entscheidung vom 15.05.2019; Aktenzeichen 4 Ca 160/19)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 30.11.2021; Aktenzeichen 9 AZR 143/21)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Trier vom 15. Mai 2019, Az. 4 Ca 160/19, teilweise abgeändert und der Klageantrag zu 2) auf Zahlung von € 1.113,65 brutto nebst Zinsen abgewiesen.
  2. Die Kosten erster Instanz werden gegeneinander aufgehoben. Die Kosten zweiter Instanz hat der Kläger zu tragen.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten zweitinstanzlich noch über die Abgeltung des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen.

Der 1956 geborene Kläger war vom 22. August 2016 bis zum 15. Februar 2019 bei der Beklagten als Sicherheitskraft beschäftigt. Die vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit betrug 46 Stunden, der Stundenlohn belief sich zuletzt auf € 10,08 brutto. Die Bundesagentur für Arbeit gewährte der Beklagten auf ihren Antrag einen Eingliederungszuschuss nach §§ 88 ff SGB III. Dem Kläger stand der gesetzliche Mindesturlaub zu. Er kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 3. Januar zum 15. Februar 2019 selbst.

Der Kläger ist seit Oktober 2014 als schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 50 anerkannt. Es ist streitig, ob der Beklagten bereits im August 2016 die Schwerbehinderung des Klägers bekannt war, weil sie einen Eingliederungszuschuss für schwerbehinderte Menschen beantragt hat.

Nach Ausspruch der Kündigung verlangte der Kläger mit Schreiben vom 23. Januar 2019 vergeblich die teilweise Gewährung und Abgeltung von zwölf Tagen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen (für 2016 anteilig zwei Tage, für 2017 und 2018 jeweils fünf Tage) sowie von elf Tagen Erholungsurlaub. Soweit zweitinstanzlich noch von Interesse machte er in erster Instanz mit dem Klageantrag zu 2) Urlaubsabgeltung für insgesamt 23 Tage iHv. € 2.492,28 brutto geltend. Die Beklagte zahlte ihm nach Klageerhebung Urlaubsabgeltung iHv. € 649,89 brutto.

Das Arbeitsgericht Trier hat die Beklagte mit Urteil vom 15. Mai 2019 (Ziff. 2 des Tenors) verurteilt, an den Kläger € 1.113,65 brutto Urlaubsabgeltung für zwölf Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen und sieben Tage Mindesturlaub (19 Tage x € 92,66 brutto = € 1.760,54 abzgl. gezahlter € 649,89) zu zahlen. Zur Begründung hat das Arbeitsgerichts im Wesentlichen ausgeführt, der Zusatzurlaub für die Jahre 2016 bis 2018 sei - wie der gesetzliche Mindesturlaub - am Ende des jeweiligen Kalenderjahrs nicht verfallen, weil die Beklagte den Kläger nicht über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt habe (vgl. BAG 19.02.2019 - 9 AZR 541/15). Es könne dahinstehen, ob der Beklagten die Schwerbehinderung des Klägers bekannt gewesen sei. Die durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union statuierte Hinweispflicht (vgl. EuGH 06.11.2018 - C-684/16) betreffe auch die Zusatzurlaubstage nach § 208 SGB IX nF bzw. § 125 SGB IX aF. Dem Arbeitgeber sei auch bei Unkenntnis von der Schwerbehinderung zumutbar, dem Arbeitnehmer mitzuteilen, dass ihm im Falle einer Schwerbehinderung fünf zusätzliche Urlaubstage zustehen und diese ebenfalls genommen werden müssen, um deren Verfall zu verhindern. Dadurch würde der Arbeitgeber sowohl seiner Hinweispflicht gerecht als auch dem Recht des Arbeitnehmers, seine Schwerbehinderung nicht zu offenbaren.

Gegen das am 8. Juli 2019 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit einem am 19. Juli 2019 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem am 3. September 2019 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Sie trägt vor, sie habe erst im Januar 2019 von der Schwerbehinderung des Klägers Kenntnis erlangt. Den Eingliederungszuschuss habe sie im August 2016 beantragt, weil der Kläger längere Zeit arbeitslos gewesen sei. Der Kläger könne nicht, obwohl er ihr seine Schwerbehinderung verschwiegen habe, noch nach mehreren Jahren Zusatzurlaub beanspruchen. Eine generelle Pflicht des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer auf einen Zusatzurlaub hinzuweisen und zur Urlaubsnahme aufzufordern, obwohl ihm die Schwerbehinderung nicht bekannt sei, bestehe nicht. Die vom Arbeitsgericht angenommene Hinweispflicht gegenüber allen Arbeitnehmern, dass ihnen im Fall einer theoretisch vorhandenen Schwerbehinderung zusätzlicher Urlaub zustehe, der bis zum Jahresende genommen werden müsse, schieße über das Ziel hinaus.

Die Beklagte...

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