Entscheidungsstichwort (Thema)

Unwirksame außerordentliche Verdachtskündigung wegen sexueller Belästigung einer Mitarbeiterin bei unzureichenden Darlegungen der Verdachtsgründe in zeitlicher Hinsicht

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine sexuelle Belästigung im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG liegt vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch sexuell bestimmte körperliche Berührungen und Bemerkungen sexuellen Inhalts gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein etwa von Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird; im Unterschied zu § 3 Abs. 3 AGG können auch einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweisen den Tatbestand einer sexuellen Belästigung erfüllen.

2. Auch wer am Arbeitsplatz die allgemein übliche minimale körperliche Distanz zu einer Mitarbeiterin regelmäßig nicht wahrt sondern diese gezielt unnötig und wiederholt anfasst, berührt oder gar sich mit seinem Körper an die Mitarbeiterin herandrängelt, obwohl all diese Kontakte erkennbar nicht erwünscht sind, begeht eine sexuelle Belästigung.

3. Im Kündigungsschutzverfahren hat die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Arbeitgeberin sämtliche als Indizien für eine sexuelle Belästigung zeitlich näher zu bestimmen, wenn der Arbeitnehmer die Darlegungen der Arbeitgeberin bestreitet; dazu hat die Arbeitgeberin im Einzelnen darzulegen, wann der Arbeitnehmer in welcher Form welche Mitarbeiterin in welcher Art und Weise sexuell angegangen oder belästigt hat.

4. Die fehlende Bestimmtheit einzelner Vorwürfe in zeitlicher Hinsicht kann nicht durch den Ausspruch einer Verdachtskündigung "umgangen" werden; die erforderlichen Indizien, die als objektive Tatsachen für den Ausspruch einer Verdachtskündigung benötigt werden, müssen im Einzelnen nach Ort und Zeit auch deshalb benannt werden, damit sich der beschuldigte Arbeitnehmer hierzu im Rahmen der Anhörung konkret einlassen und verteidigen kann, was bei Vorwürfen, die in zeitlicher Hinsicht nur recht unbestimmt mit einem Zeitraum von anderthalb Jahren angegeben werden, nicht möglich ist.

 

Normenkette

AGG §§ 1 ff.; BGB § 626 Abs. 1; AGG § 3 Abs. 4; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Koblenz (Entscheidung vom 20.05.2015; Aktenzeichen 12 Ca 4570/14)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 20.05.2015, Az: 12 Ca 4570/14, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien des vorliegenden Rechtsstreits streiten darüber, ob das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis aufgrund einer außerordentlichen und einer hilfsweise ordentlich ausgesprochenen Verdachtskündigung der Beklagten sein Ende gefunden hat. Ferner - nicht im Berufungsverfahren anhängig - verlangt der Kläger die Entfernung einer ihm erteilten Abmahnung vom 01.09.2014. Des Weiteren macht der Kläger die Weiterbeschäftigung als Schichtführer geltend.

Der 1968 geborene und vier Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit 1992 als Schichtführer bei der Beklagten beschäftigt. Sein durchschnittliches Bruttomonatsgehalt betrug zuletzt 4.000,00 EUR. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer. In ihrem Betrieb existiert ein Betriebsrat; auf das Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge der Beklagten unmittelbare Anwendung.

Mit Schreiben vom 01.09.2014 hat die Beklagte dem Kläger wegen eines Vorfalls am 28.07.2014 eine Abmahnung erteilt, hinsichtlich dessen Inhalts im Einzelnen auf Bl. 65, 66 d. A. Bezug genommen wird.

Der Kläger ist als Schichtführer unter anderem Fachvorgesetzter der Mitarbeiterin der Beklagten, Frau P. Frau P. ist verheiratet und als Verladerin in der Paketzentrum-Eingangs-Schicht beschäftigt. Am 31.10.2014 hat sich Frau P. über angebliche sexuelle Belästigungen durch den Kläger in den letzten 1 1/2 Jahren beschwert. Über das Gespräch hat die Beklagte ein Protokoll angefertigt, hinsichtlich dessen Inhalts auf Bl. 43 bis 46 d. A. Bezug genommen wird. In diesem Gespräch hat sie unter anderem zu Protokoll erklärt, dass der Kläger ihre Pausen so eingeteilt habe, dass er mit ihr allein gewesen sei. Bei einer solchen Gelegenheit habe er sie derart bedrängt, dass er sie gegen und fast in einen Schrank gedrängt habe. Er habe sich während ihrer Arbeit ganz nah hinter sie gestellt und ihr ins Ohr gehaucht: "Ich suche eine Frau". Ein anderes Mal habe er neben ihr gestanden, ihr durchs Haar gestreichelt und sie gefragt, "Was denkst Du unter der Dusche?". Im Juli 2014 habe er sie zu einem privaten Fußballturnier eingeladen und erklärt, dass sie zukünftig eine leichtere Tätigkeit, nämlich Pakete kleben, übernehmen dürfe, wenn sie zu dem Termin komme. Bei ihrer Arbeit auf der Brücke sei ihr der Kläger so nahe gekommen, dass sie einen Atem im Nacken habe spüren können. Dabei habe er zu ihr gesagt: "Wenn Du besonders lieb und freundlich zu mir bist, darfst Du auch codieren oder im Frühdienst Pakete kleben. Wenn nicht, dann stecke ich Dich in d...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge