Entscheidungsstichwort (Thema)
Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bei fehlgeschlagenem Nachweis des Zugangs eines Kündigungsschreibens durch Übergabe. Beweiswert eines ungehefteten Bestätigungsschreibens ohne Datumsangabe. Anforderungen an die Verwirkung des Klagerechts durch Nichtbetreiben des arbeitsgerichtlichen Verfahrens
Leitsatz (redaktionell)
1. Grundsätzlich kann auch die Befugnis zur Fortsetzung eines anhängigen Verfahrens, das längere Zeit nicht betrieben wurde, verwirken; die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB).
2. Aus rechtsstaatlichen Gründen (Art. 19 Abs. 4 GG) kommt der Verlust des Klagerechts im anhängigen Rechtsstreit nur in begrenzten Ausnahmefällen in Betracht; das ist bei den Anforderungen an das Zeit- und Umstandsmoment zu berücksichtigen.
3. Hat die Klägerin den zunächst anberaumten Gütetermin am 13.12.2012 nicht wahrgenommen und ihre geänderte Anschrift dem Arbeitsgericht nicht mitgeteilt und wurde der Rechtsstreit nach sechs Monaten gemäß § 5 AktO ausgetragen und erst mit am 05.03.2014 beim Arbeitsgericht eingegangenen Schreiben der Klägerin unter Hinweis auf gesundheitliche Gründe von London aus wieder aufgenommen, hat die Klägerin ihr Klagerecht nicht durch ihre Untätigkeit verwirkt, wenn die Beklagte keine Gesichtspunkte vorgetragen hat, aufgrund derer bei ihr ein schutzwürdiges Vertrauen dahingehend begründet werden konnte, dass die Klägerin ihre Feststellungsklage nicht mehr verfolgen wird und sie sich mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgefunden hat (Umstandsmoment); allein der Verfahrensstillstand reicht zur Begründung eines solchen Vertrauens nicht aus, da die Beklagte als Arbeitgeberin selbst bei mehrmonatigem Verfahrensstillstand keinen Anlass hat darauf zu vertrauen, nicht mehr gerichtlich auf die Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses in Anspruch genommen zu werden.
4. Für eine Prozessverwirkung ist allenfalls in engen Grenzen Raum; zur Untätigkeit der Arbeitnehmerin müssen besondere Umstände hinzutreten, die unzweifelhaft darauf hindeuten, dass sie trotz der ihr eröffneten Möglichkeit einer gegebenenfalls späten Verfahrensaufnahme auf Dauer von der Durchführung des Rechtsstreits absehen wird.
5. Legt die Arbeitgeberin im Verfahren zur Feststellung des Fortbestands des Arbeitsverhältnisses ein an die Klägerin adressiertes Kündigungsschreiben vom 28.09.2012 vor, das von der Arbeitnehmerin nicht wie vorgesehen ("Durch ihre Unterschrift bestätigen Sie den Empfang.") über dem Namenszug " A." unterzeichnet worden ist, und reicht die Arbeitgeberin dazu ein auf demselben Briefpapier gefertigtes Papier mit dem Inhalt "Bestätigung der Übergabe am 28.09.2012 von folgenden Kündigungen .. Anwesende Personen: ... Hiermit bestätigen E., F. und G. die Übergabe der Kündigungen am 28.09.2012 an oben genannte Mitarbeiter" zu den Akten, kann dieses von der Geschäftsführerin der Arbeitgeberin E. sowie von F. und G. unterzeichnete Bestätigungsschreiben ohne Ausstellungsdatum nur beweisen, dass diese drei Personen die in diesem enthaltene Erklärung ("bestätigen (...) die Übergabe der Kündigungen am 28.09.2012 an oben genannte Mitarbeiter") abgegeben haben (§ 416 ZPO); das vorgelegte Bestätigungsschreiben beweist jedoch nicht, dass die Kündigungen tatsächlich an diesem Tag übergeben wurden.
6. Weist ein "Bestätigungsschreiben" kein Ausstellungsdatum aus, kann aus ihm nicht entnommen werden, zu welchem Zeitpunkt die Bestätigenden die genannte Erklärung abgegeben haben, insbesondere wenn es nicht auf demselben Papierbogen wie das Kündigungsschreiben gedruckt ist und weder Kündigungsschreiben und Bestätigung durch eine Heftung miteinander verbunden sind noch etwa durch eine Paginierung deutlich gemacht ist, dass das Bestätigungsschreiben am selben Tag angefertigt wurde; spricht das Schreiben lediglich von einer "Bestätigung" der Übergabe und bleibt damit offen, wer genau unter welchen genauen Umständen zu welcher Uhrzeit in welcher Form das Kündigungsschreiben übergeben hat, ist kein Nachweis dazu erbracht, dass ein Kündigungsschreiben der Arbeitgeberin vom gleichen Tag durch den Versuch der persönlichen Übergabe und das Ablegen des Schreibens auf einem Tisch in dem von der Arbeitnehmerin bewohnten Zimmer zugegangen ist.
Normenkette
ArbGG § 54 Abs. 5 S. 4, § 67 Abs. 1; BGB § 623; GG Art. 19 Abs. 4; BGB § 130 Abs. 1 S. 1, §§ 242, 620 Abs. 2; ArbGG § 4; ZPO § 286 Abs. 1 S. 1, §§ 373, 416
Verfahrensgang
ArbG Koblenz (Entscheidung vom 11.09.2014; Aktenzeichen 7 Ca 1030/14) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz - Az. 7 Ca 1030/14 - vom 11. September 2014 abgeändert.
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien über den 31. Oktober 2012, an dem nach Ansicht des Arbeitgebers das Arbeitsverhältnis beendet ist, fortbesteht.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits (1. und 2. Instanz) zu tragen.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über den Fortbestand des ...