Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung eines Rechtsstreits wegen rechtshängiger Verfahrensbeschwerde zur streitentscheidenden Norm. Aussetzung des Verfahrens in arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten als Ermessensentscheidung nach Interessenabwägung der Umstände des Einzelfalls. Überprüfbarkeit einer Aussetzungsentscheidung im Beschwerdeverfahren. Aufhebung der Aussetzungsentscheidung wegen fehlerhafter Ermessensausübung des Erstgerichts. Feststellung der Vorgreiflichkeit eines anderen Verfahrens als Voraussetzung einer Aussetzung
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Rechtsstreit kann in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO auch dann ausgesetzt werden, wenn bezogen auf die streitentscheidende Norm ein Normenkontrollverfahren oder eine Verfassungsbeschwerde anhängig ist. Die Vorschrift will nach einhelliger Auffassung eine doppelte Prüfung derselben Frage in mehreren Verfahren verhindern. Das dient der Prozesswirtschaftlichkeit und der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen (BAG 10. September 2020 - 6 AZR 136/19 (A), Rn. 38; BAG 20. Mai 2010 - 6 AZR 481/09 (A), Rn. 9).
2. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist eine Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist bei der nach § 148 Abs. 1 ZPO vorzunehmenden Ermessenausübung anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (BAG 10. September 2020 - 6 AZR 136/19 (A), Rn. 44; BAG 16. April 2014 - 10 AZB 6/14, Rn. 5).
3. Im Beschwerdeverfahren kann die Entscheidung des Arbeitsgerichts über die Aussetzung des Verfahrens nach § 148 ZPO nur darauf überprüft werden, ob ein Aussetzungsgrund im Sinne der Vorgreiflichkeit des anderen Rechtsstreits vorliegt und ob das Arbeitsgericht bei der Ausübung seines Ermessens dessen Grenzen eingehalten hat und auch sonst keine Ermessensfehler gegeben sind (LAG Berlin-Brandenburg 25. November 2020 - 21 Ta 1223/20, Rn. 19; BGH 25. Juli 2019 - I ZB 82/18, Rn. 39 mwN). Dabei ist die materiell-rechtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch das erstinstanzliche Gericht nicht zu überprüfen. Deren Überprüfung bleibt einem etwaigen späteren Rechtsmittelverfahren gegen die Sachentscheidung vorbehalten (BAG 26. Oktober 2009 - 3 AZB 24/09, Rn. 9; LAG Berlin-Brandenburg 25. November 2020 - 21 Ta 1223/20, Rn. 19; BGH 25. Juli 2019 - I ZB 82/18, Rn. 38). Dies gilt jedenfalls, soweit das Arbeitsgericht die Sach- und Rechtslage nicht offensichtlich verkannt hat (vgl. BAG 26. Oktober 2009 - 3 AZB 24/09, Rn. 9; LAG Berlin-Brandenburg 25. November 2020 - 21 Ta 1223/20, Rn. 19).
4. Bei einer fehlerhaften Ermessensausübung darf das Beschwerdegericht die Aussetzungsentscheidung lediglich aufheben. Dies gilt auch dann, wenn das erstinstanzliche Gericht sein Ermessen nicht oder nur ungenügend ausgeübt hat. Darin liegt ein zur Aufhebung der Aussetzungsentscheidung führender Ermessensfehler (LAG Berlin-Brandenburg 25. November 2020 - 21 Ta 1223/20, Rn. 19; BGH 25. Juli 2019 - I ZB 82/18 - Rn. 39 mwN). Das Beschwerdegericht darf sein Ermessen nicht an die Stelle des dem erstinstanzlichen Gericht eingeräumten Ermessens setzen (Hessisches LAG 31. Mai 2021 - 15 Ta 34/21, Rn. 21; Zöller/Greger, ZPO 33. Auflage § 252 Rn. 3). Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Ermessen auf Null reduziert ist (LAG Berlin-Brandenburg 25. November 2020 - 21 Ta 1223/20, Rn. 19; BGH 25. Juli 2019 - I ZB 82/18 - Rn. 39 mwN). Entsprechendes gilt bei Zurückweisung eines Aussetzungsantrages.
5. Eine Aussetzung kommt in der Regel erst in Betracht, wenn das Verfahren "ausgeschrieben" ist (LAG Berlin-Brandenburg 25. November 2020 - 21 Ta 1223/20, Rn. 24). Erst dann kann die Vorgreiflichkeit festgestellt werden.
6. Die Aussetzung kann im erstinstanzlichen Verfahren anders zu beurteilen sein als im Berufungsverfahren.
7. Bei einer Aussetzung wegen einer anhängigen Verfassungsbeschwerde ist auch deren Befristung in Betracht zu ziehen.
Normenkette
EMRK Art. 6 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a, Art. 100 Abs. 1; AEUV Art. 267; ZPO § 148 Abs. 1-2; ArbGG § 9 Abs. 1; BGB § 204 Abs. 2 S. 3; TV-L § 37 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Magdeburg (Entscheidung vom 22.04.2021; Aktenzeichen 4 Ca 2529/19 E) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des beklagten Landes wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Magdeburg vom 22. April 2021 - 4 Ca 2529/19 E - in der Fassung des Nichtabhilfebeschlusses vom 25. Mai 2021 aufgehoben (berichtigt gemäß Beschluss vom 09. September 2021).
Die erforderliche Anordnung wird dem Vorsitzenden der 4. Kammer des Arbeitsgerichts Magdeburg übertragen.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
A. Die Parteien streiten über die zutreffende Eingruppierung der Klägerin.
Die Klägerin, die über eine Ausbildung zur Facharbeiterin für Schreibtechnik verfügt, ist bei dem beklagten Land seit dem...