Entscheidungsstichwort (Thema)

Anfechtbare Betriebsratswahl bei Verkennung des Betriebsbegriffs. Kein Transfer von Betriebsnormen aus Zuordnungstarifverträgen beim Betriebsübergang nach § 613a BGB. Keine Vorbehalte aus Europäischem Recht gegen die Transfersperre bei kollektiven Normen im Rahmen des § 613a BGB

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Verkennung des Betriebsbegriffs für sich allein bei im Übrigen ordnungsgemäß durchgeführter Wahl führt nicht zu einer - jederzeit zu beachtenden - Nichtigkeit der Betriebsratswahl, sondern nur zu ihrer - fristgebundenen - Anfechtbarkeit nach § 19 Abs. 1 BetrVG.

2. Von der Transformation des § 613a BGB werden grundsätzlich nur Inhalts- und Beendigungsnormen erfasst, also Regelungen über Inhalt und Beendigung der Arbeitsverhältnisse. Demgegenüber werden Abschlussnormen und Tarifnormen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen nicht transformiert. Normen in Zuordnungstarifverträgen nach § 3 BetrVG werden daher nicht nach § 613 a BGB transferiert mit der Folge, dass sie nach dem Betriebsübergang als Rechtsgrundlage für gewillkürte Arbeitnehmervertretungen entfallen.

3. Zwar schützt Art. 6 der Richtlinie 2001/23/EG den Bestand von Arbeitnehmervertretungen beim Betriebsübergang. Jedoch sieht das deutsche Recht in § 21a BetrVG zunächst das Übergangsmandat und nachfolgend die Wahl von Betriebsräten für den übergegangenen Betriebsteil vor. Insofern fallen die Arbeitnehmer in dieser Konstellation nicht in einen betriebsratslosen Zustand, da Betriebsräte für die Einzelbetriebe zu wählen sind.

 

Normenkette

BetrVG §§ 19, 3 Abs. 1; TVG § 3 Abs. 3; BGB § 613a; RL 2001/23/EG Art. 3 Abs. 3, Art. 6; BetrVG §§ 3-4, 21a; TVG § 3 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Kiel (Entscheidung vom 27.01.2022; Aktenzeichen 5 BV 24 b/21)

 

Nachgehend

BAG (Beschluss vom 21.06.2023; Aktenzeichen 7 ABR 19/22)

 

Tenor

  1. Die Beschwerde der Beteiligten zu 2. gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Kiel vom 27.01.2022 - 5 BV 24 b/21 - wird zurückgewiesen.
  2. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die am 26.07.2021 durchgeführte Betriebsratswahl wirksam ist.

Die Antragstellerin ist ein Unternehmen der Wohlfahrtspflege, das zurzeit rund 1.500 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt. Sie unterhält im gesamten Land Schleswig-Holstein eine Vielzahl von Einrichtungen der stationären und ambulanten Pflege. Dabei handelt es sich im Einzelnen um die nachstehend, nach Regionen geordneten Einrichtungen:

- Region Nordost: Servicehäuser K. M., K. A. W., K. B., K. E., L. B., K. S., K. W. sowie das Wohn- und Servicezentrum S. mit dem Pflegedienst P.,

- Region Nordwest: Servicehäuser F. S., F. F., F. Fr. B., Sozialruf F., E. sowie das Wohn- und Servicezentrum M., die Sozialstation T. und die (ambulanten) Pflegedienste B.,

- Region Südost: Verbund L. mit der Sozialstation H. L., das Wohn- und Servicezentrum L., das Wohnen mit Service G., das W.-G.-H. L. sowie das Haus am M. L., die Servicehäuser L. und N. sowie die Pflegedienste S.,

- Region Südwest: Wohn- und Servicezentrum W. sowie die Pflegedienste P. S., der Pflegedienst M. N., die Wohnpflege E., das Wohn- und Servicezentrum T. sowie die Pflegedienste P. Nord.

Die Antragstellerin übernahm mit Wirkung zum 01.01.2020 von der A. Schleswig-Holstein gGmbH den dortigen Unternehmensbereich Pflege. Die jeweiligen Einrichtungen der Pflege blieben in ihrer tatsächlichen Struktur unverändert.

Die A. Schleswig-Holstein gGmbH hatte am 25.09.2017 mit der Gewerkschaft ver.di einen Tarifvertrag nach § 3 BetrVG über die Betriebsratsstrukturen vereinbart (im Folgenden Tarifvertrag genannt). Der Tarifvertrag sieht eine nach fachlichen Kriterien gebildete Betriebsrätestruktur vor. Nach § 5 des Tarifvertrags wurden die Betriebe "Kindertagesbetreuung und kaufmännische Dienste", "Psychosoziale Dienste und Mutter-Kind-Kliniken", "Jugend- und Familienhilfe" sowie "Pflege und Bildungszentren" gebildet.

Nach § 5 Abs. 1 Ziff. 4 des Tarifvertrages wurden dem Betriebsrat "Pflege- und Bildungszentren" alle, auch künftige, Betriebe/Betriebsteile der Pflege und der Bildungszentren, unabhängig vom Sitz des Betriebes/Betriebsteiles, zugeordnet.

§ 6 des Tarifvertrags lautet:

"Die Zuordnung gem. § 5 dieses Tarifvertrages gilt auch für neue betriebliche Einheiten, die während der Laufzeit dieses Vertrages errichtet werden. Die Zuordnung erfolgt unter der Beteiligung des Gesamtbetriebsrates."

§ 9 Abs. 2 des Tarifvertrags lautet:

"Im Kalenderjahr vor den regelmäßigen Wahlen wird jeweils geprüft, ob diese Vereinbarung weiterhin angewandt werden soll oder sich die Struktur der A. Schleswig-Holstein gGmbH in ihrer Gesamtheit so verändert hat, dass der Tarifvertrag zur Betriebsrätestruktur angepasst werden soll. Eine Änderung der Inhalte dieses Tarifvertrages ist nur einvernehmlich möglich."

Hinsichtlich des weiteren Inhalts des Tarifvertrags wird auf die Anlage ASt 2 (Bl. 18-22 d.A.) Bezug genommen.

Für den Betrieb "Pflege und Bildungszentren" wurde ein 17-köpfiger Betriebsrat gewählt. Der Betriebs...

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