Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialplanpflicht bei werksweiter Einführung eines standardisierten und zeitlich abgestuften Verbesserungsverfahrens. Unbegründeter Feststellungsantrag der Arbeitgeberin zur Unwirksamkeit eines Einigungsstellenspruchs bei Betriebsänderung durch grundlegende Änderung der Betriebsorganisation und Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden und Fertigungsverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die werksweite Einführung eines standardisierten, in Phasen aufeinander aufbauenden Verbesserungsverfahrens, das die systematische Steigerung der Effektivität und Produktivität zum Ziel hat, kann eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 Satz 3 Ziff. 5 BetrVG darstellen.

2. Auch wenn zu Beginn der Einführung eines derartigen Verfahrens iSd § 111 Satz 3 Ziff. 5 BetrVG mangels Vorliegens von Auswertungsergebnissen noch keine konkreten wirtschaftlichen Nachteile für die betroffenen Beschäftigten geplant sind, ist ein Sozialplan in der Einigungsstelle erzwingbar. Das gilt jedenfalls nach Scheitern der Interessenausgleichsverhandlungen.

3. Es reicht aus, dass die in dem erzwingbaren Sozialplan als ausgleichsfähig geregelten Nachteile gerade objektiv durch diese Betriebsänderung möglicherweise verursacht werden.

4. Zur Wirtschaftlichkeitsprüfung bei aktuell - noch - nicht feststellbarem Sozialplanvolumen.

 

Normenkette

BetrVG § 76 Abs. 5, § 111 S. 3 Nrn. 4-5, § 112 Abs. 1, 5, §§ 113, 76 Abs. 5 S. 4

 

Verfahrensgang

ArbG Lübeck (Entscheidung vom 26.06.2013; Aktenzeichen 5 BV 9/13)

 

Nachgehend

BAG (Beschluss vom 22.03.2016; Aktenzeichen 1 ABR 12/14)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Betriebsrats wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Lübeck vom 26.06.2013 - 5 BV 9/13 - abgeändert:

Der Antrag der Arbeitgeberin/Antragstellerin wird zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird für die Antragstellerin/Arbeitgeberin zugelassen

 

Gründe

A.

Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit eines durch Spruch der Einigungsstelle zustande gekommenen Sozialplanes vom 10.01.2013.

Die Antragstellerin (im Folgenden: Arbeitgeberin) ist ein Tochterunternehmen des weltweit agierenden in den U... ansässigen H...- Konzerns. An ihrem Betriebssitz in G... stellt sie Scheibenbremsbeläge für PKW, Nutzfahrzeuge und Schienenfahrzeuge, Industriereib-Beläge, Reibwerkstoffe aus Sintermetall sowie Handbremsbacken her. Im Betrieb in G... sind zurzeit ca. 964 Mitarbeiter beschäftigt. Antragsgegner ist der im Betrieb in G... gebildete Betriebsrat.

Die Beteiligten verhandeln seit Oktober 2006 über die Einführung und Anwendung des H... Operating System (HOS) im Betrieb der Antragstellerin in G.... Bei HOS handelt es sich um ein mehrstufiges Verfahren zur umfassenden Verbesserung des Produktionsstandortes und zur Steigerung der Produktivität. Dabei wird eine Verbesserung aller für die Leistungsfähigkeit eines Standortes maßgeblichen Kennzahlen angestrebt. Zielvorgaben von HOS sind: a) die Steigerung der Qualität und Fehlerreduzierung; b) die Unfallvermeidung durch Erhöhung der Sicherheit; c) Steigerung der Lieferpünktlichkeit; d) Verbesserung der Lagerhaltung und e) Aufstellung von betriebswirtschaftlichen Vorgaben mittels OPE (Effektivitätsberechnung für jeden Bereich und jeden Mitarbeiter pro Stunde).

Die Einführung und gleichzeitige Anwendung von HOS richtet sich konzernweit nach einem standardisierten Verfahren, das in fünf aufeinander aufbauende Phasen untergliedert ist.

"Phase 1 - Organisatorische Bereitschaft" beinhaltet u.a. die Vorbereitung auf die Einführung von HOS (u.a. Festlegung von Verantwortlichkeiten und Führungsteams, Schulung von Führungskräften, Erarbeitung von Kommunikationsstrukturen).

"Phase 2 - Grundlagen und Planung" beinhaltet u.a. den Start der Umsetzung des HOS in Form der Grundlagenanalyse, Bestandsaufnahme der Lieferkette, Organisation und Prozessabläufe, Entwicklung eines Konzepts zur Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse, Einrichtung von Verbesserungsteams, Entwicklung von Schulungsplänen.

"Phase 3 - Lernen durch Beobachtung und Stabilisierung" beinhaltet u.a. die Schulung der Führungstruppe, Schaffung und Instandhaltung eines organisierten und sauberen Arbeitsumfeldes, Entwicklung standardisierter Arbeitsabläufe mithilfe von Arbeitsblättern (SOS), die Vorgaben für die Reihenfolge der Erledigungsschritte einschließlich Zeitangaben enthalten.

"Phase 4 - Verbesserung der Arbeitsprozesse": Hier erfolgt u.a. die Umsetzung der substantiellen Erstverbesserungen einschließlich der standardisierten Abläufe. Auf der Grundlage einer internen Auswertung der ermittelten standardisierten Arbeits- und Produktionsabläufe werden Kennzahlen erstellt (SCS), die das Hauptverfahren, Zeit, Maschinen- und Mitarbeiterauslastung betreffen. In diesem Zusammenhang wird u.a. am jeweiligen Arbeitsplatz die für jeden notwendigen Arbeitsschritt aufgewendete Zeit gestoppt. Außerdem wird auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse ein System (TPS) zur Erreichung höchstmöglicher Maschinenverfügbarkeit implementiert.

"Phase 5 - Streben nach Qualität" dient der Langzeiterprobung der...

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