Entscheidungsstichwort (Thema)

Solofagottistin. befristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Nichtigkeit der tariflichen Beendigungsregelung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Regelung in § 45 Abs. 1 Satz 1 TVK, wonach das Arbeitsverhältnis – auch dann – endet, wenn dem Arbeitnehmer eine befristete EU-Rente bewilligt worden ist, ist wegen Umgehung der zwingenden kündigungsschutzrechtlichen Regelungen in § 1 KSchG unwirksam.

 

Normenkette

Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern (TVK) § 45 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Lübeck (Urteil vom 15.02.1996; Aktenzeichen 1b Ca 1360/95)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 14.05.1997; Aktenzeichen 7 AZR 471/96)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts LÜBECK vom 15.02.1996 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob zwischen ihnen über den 31.03.1995 hinaus ein Arbeitsverhältnis besteht. Die Klägerin nahm 1978 ihre Tätigkeit als stellvertretende Solofagottistin im Orchester der Beklagten auf. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Verbandszugehörigkeit der Tarifvertrag für die Musiker in Kulturorchestern (TVK) in der jeweiligen Fassung Anwendung. Mit Bescheid vom 09.03.1995, der der Klägerin am 15.03. zugegangen ist, hat die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) der Klägerin eine bis zum 31.08.1997 befristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt. Mit Schreiben vom 24.04.1995 teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis gem. § 45 TVK mit Ablauf des 31.03.1995 ende. Die Klägerin erhält eine außerhalb der Rentenversicherung bestehende Versorgung i. S. d. § 45 Abs. 1 Satz 1 TVK.

Die Klägerin ist der Auffassung, daß ihr Arbeitsverhältnis mit der Beklagten über den 31.03.1995 hinaus fortbestehe. § 45 Abs. 1 TVK sei einschränkend dahingehend auszulegen, daß nur die Bewilligung einer dauernden Erwerbsunfähigkeitsrente (im folgenden EU-Rente) zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führe; anderenfalls würden die Schutzvorschriften des KSchG umgangen.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, sie ab 1. September 1997 zu unveränderten Arbeitsbedingungen als stellvertretende Solofagottistin im Orchester der Hansestadt L. weiterzubeschäftigen, wenn ihre Berufsfähigkeit bis dahin wiederhergestellt ist,

hilfsweise festzustellen,

daß ihr Arbeitsverhältnis bei der Beklagten nicht mit Ablauf des 31. März 1995 geendet hat, sondern lediglich in der Zeit vom 1. April 1995 bis 31. August 1997 ruht.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien nach § 45 Abs. 1 TVK beendet sei.

Wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf das angefochtene Urteil des Arbeitsgerichts LÜBECK vom 15.02.1996 nebst dessen Verweisungen Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat dem Feststellungsbegehren der Klägerin hinsichtlich des Hauptantrages mit der Begründung entsprochen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht gem. § 45 Abs. 1 Satz 1 TVK zum 31.03.1995 beendet sei. Die Auslegung dieser Vorschrift ergebe, daß auch die Bewilligung einer befristeten EU-Rente erfaßt sei und zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen solle. § 45 Abs. 4 und 5 Satz 2 TVK regelten Sachverhalte, die sich nur ergeben könnten, wenn auch die Bewilligung einer befristeten EU-Rente das Arbeitsverhältnis beende. Mit diesem Inhalt sei § 45 Abs. 1 Satz 1 TVK jedoch wegen Umgehung der zwingenden Regelungen des § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam. Bei der Vereinbarung von Tarifverträgen seien die Tarifvertragsparteien an die zwingenden Normen höherrangigen Rechts gebunden; hierzu gehörten auch die Vorschriften des KSchG, insbesondere dessen § 1 Abs. 1 – BAG, Urt. v. 28.06.1995, 7 AZR 555/94 –. Eine tarifliche Regelung, nach der ein Arbeitsverhältnis bei Gewährung einer EU-Rente auf Zeit ende, enthalte einen schwerwiegenden Eingriff in den unabdingbaren Schutz des KSchG; für die sachliche Rechtfertigung dieses Auflösungstatbestandes müßten besonders strenge Anforderungen gelten – BAG, Urt. v. 13.06.1985, AP Nr. 19 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht –. Sachlich gerechtfertigt sei ein tarifvertraglicher Auflösungstatbestand regelmäßig dann, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis bei Eintritt des Auflösungstatbestandes auch durch Kündigung beenden könne. Bei Bewilligung einer befristeten EU-Rente könne der Arbeitgeber jedoch eine sozial gerechtfertigte Kündigung regelmäßig nicht wirksam aussprechen. Dieser Eingriff in den Kündigungsschutz des Arbeitnehmers durch § 45 Abs. 1 Satz 1 TVK werde auch nicht hinreichend durch die zugunsten des Arbeitnehmers bestehende Wiedereinstellungsmöglichkeit nach § 45 Abs. 5 TVK ausgeglichen. Zum einen handele es sich bei dieser Regelung um eine „Soll Vorschrift”; zum anderen bestehe der Anspruch nur für den Fall, daß ein geeigneter Arbeitsplatz bei dem Arbeitgeber frei sei.

Gegen dieses ihr am 22.03.1996 zugestellte Urteil h...

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