Roland Bornhofen, Prof. Dr. Udo Bühler
Rz. 2215
Für viele Fallkonstellationen dürfte ein unangemessenes Benachteiligen des Kunden nicht angenommen werden. Erforderlich ist jedoch, dass die Klausel auch für alle wesentlichen Fallkonstellationen an § 307 BGB Bestand hat. Dies ist jedoch nicht der Fall:
Rz. 2216
Das direkte Aufsuchen eines Orthopäden nach voraussichtlichem Bänderriss im Ellenbogenbereich ist sachgerecht. Ein Allgemeinarzt hätte keine entsprechende Untersuchung durchführen können. Hierdurch würden nur zusätzliche Kosten entstehen und zusätzlicher Zeitaufwand für den Patienten. Niemand würde auch auf den Gedanken kommen, bei plötzlicher Sehschwäche oder Verletzungen im Auge den Allgemeinarzt aufzusuchen.
Rz. 2217
Die Klausel ist aber auch unwirksam, weil nicht verlangt werden kann, dass der Primärarzt eine Behandlung ("Erstbehandlung") durchführt. Er ist ja gerade kein Spezialist und dem Versicherten kann keine Obliegenheit auferlegt werden, einen Behandlungsunerfahrenen eine Behandlung durchführen zu lassen. Der Allgemeinarzt kann ja oft nicht einmal eine zutreffende Diagnose stellen. Allgemein wird man auch die Aufklärungspflichten wie auch die Sorgfaltspflichten eines Facharztes kritischer beurteilen als bei einem Allgemeinarzt; auf diese gesteigerten Pflichten hat der Patient jedoch im Bedarfsfall einen Anspruch.
Rz. 2218
Ebenso kann die Inanspruchnahme des Facharztes, der kein Primärarzt ist, aufgrund Dringlichkeit erforderlich sein. Die AGB sehen hierfür jedoch gerade keine Ausnahme vor. So muss es auch möglich sein, sofort einen Chirurgen aufzusuchen, wenn ein Unfall dies dringend erfordert. Auch für Vorsorgeuntersuchungen, etwa gegen Darmkrebs, muss es möglich sein, direkt einen Facharzt (hier: Gastroenterologen) aufzusuchen. Neben den genannten Fachärzten für Frauenheilkunde, für Augenheilkunde oder für Kinderheilkunde gibt es daher weitere, die der Patient unmittelbar aufsuchen kann.
Rz. 2219
Zudem: Steht aufgrund der Behandlung durch den Facharzt fest, dass der Primärarzt hätte überweisen müssen, kann eine pauschale Kürzung nicht erfolgen. Die Klausel kommt sonst einer reinen Sanktion gleich, die dazu dient, der Versicherung 20 % der Kosten zu ersparen. Auch diese Fallgruppe wird in der Klausel nicht ausgenommen.
Rz. 2220
Entgegen dem BGH kommt es nicht darauf an, "ob mit der Einschränkung der Leistung der Vertrag "ausgehöhlt" werden kann und damit in Bezug auf das zu versichernde Risiko zwecklos wird". Der BGH übersieht, dass die Klausel selber wesentliche Fallgruppen erfasst, die den Versicherungsnehmer unangemessen benachteiligen.
Ebenso können nicht pauschal die notwendigen Medikamente gekürzt werden.
Rz. 2221
Der Hinweis auf einen günstigeren Tarif bei Primärarztklauseln ist als "Preisargument" unerheblich; siehe auch Stichwort "Preisargument (vgl. Rdn 1727) unter Hinweis auf Fischer. Auch im Verbandsverfahren kann es nicht darauf ankommen, welche anderen (möglicherweise durchgängig wirksamen) Verträge die Versicherung anbietet. Jeder Vertrag muss für sich auch in den AGB angemessen sein. Auch bei einer Verbandsklage kann nicht die Frage gestellt werden "Ist etwa dem Kunden ein alternatives Versicherungsangebot gemacht worden und vermag dies zu kompensieren?". Jeder Tarif muss grundsätzlich für sich betrachtet werden und die hierin verwendeten Klauseln müssen angemessen sein. Eine Kompensation durch andere Klauseln innerhalb des Vertrages ist nicht ersichtlich (siehe auch Vor § 307 BGB Rdn 55 ff.)."
Rz. 2222
Zur europarechtlichen Frage der freien Arztwahl ist auf die Rechtsprechung zu Rechtsanwälten hinzuweisen. Insoweit betont der EuGH das Recht auf freie Anwaltswahl auch bei Masseschäden. Auch mittelbare Beschränkungen der Anwaltswahl sind unwirksam, wenn kein sachlicher Grund hierfür spricht. Aufgrund der grundsätzlich freien Tarifwahl dürfte bei der Primärarztklausel jedoch kein Verstoß vorliegen.