Leitsatz (amtlich)
§ 147 StPO
Kann die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis, die nur einem Verteidiger gemäß § 147 StPO zusteht, nicht nicht umfassend vorbereitet werden kann, besteht i.d.R. eine Schwierigkeit der Sachlage und ist dem Angeklagten dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen.
Normenkette
StPO § 147
Verfahrensgang
AG Essen (Entscheidung vom 29.03.2011; Aktenzeichen 35 Ds 17/11) |
Tenor
Der Beschluss des Amtsgerichts Essen vom 29.03.2011 wird aufgehoben.
Der Angeklagten M. wird Rechtsanwalt X. als Pflichtverteidiger bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers trägt die Landeskasse.
Gründe
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Angeklagte M. gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 29.03.2011, mit dem der Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt wird.
Die zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Ein Verteidiger ist zu bestellen, da wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint (§ 140 Abs. 2 StPO).
Der Angeklagten M. werden eine falsche Verdächtigung nach § 164 Abs. 1 StGB sowie eine Anstiftung zu einer falschen uneidliche Aussage nach §§ 153, 26 StGB vorgeworden.
(1)
Die Sachlage ist schwierig, da zur Klärung des Tatvorwurfs der falschen Verdächtigung und der Anstiftung zur Falschaussage zwei Geschehensabläufe zu rekonstruieren und zueinander ins Verhältnis zu setzen sind: Erstens das Geschehen um die Auseinandersetzung mit der Frau Me. am 31.03.2010, zweitens die möglichen Verdächtigungshandlungen im Verfahren 33 Js 1134/10 der Staatsanwaltschaft Essen (Beschuldigtenvernehmung, Stellungnahme zur Anklageschrift und Einlassung in der Hauptverhandlung). Im hiesigen Verfahren. muss das Tatgeschehen des früheren Verfahrens mithin inzident geprüft und sodann mit den insgesamt drei Einlassungen der Angeklagten Mn% verglichen werden. Damit dürfte ein Normalbürger regelmäßig überfördert sein.
Hinzu kommt, dass die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis, die nur einem Verteidiger gemäß § 147 StPO zusteht, hier nicht umfassend vorbereitet werden kann, was die Schwierigkeit der Sachlage vertieft (vgl. Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 140 Rz. 22 mit Nachweisen aus der obergerichtlichen Rspr.). Denn um- die Tatvorwürfe zu prüfen, ist die Kenntnis der Einlassungen und der Zeugenaussagen von Bedeutung. Diese können wegen des Zeitablaufs auch nicht mehr aus dem Gedächtnis rekonstruiert werden.
Zwar hat der unverteidigte Angeklagte auf seinen Antrag einen Anspruch auf Auskünfte und Abschriften aus den Akten, wenn er sich sonst nicht angemessen verteidigen könnte (§ 147 Abs. 7 StPO). Doch erscheint die Angeklagte M. im vorliegenden Fall nicht in der Lage, die für ihre Verteidigung relevanten Teile der Akten zu benennen und in ihrer Bedeutung einzuschätzen, so dass (vollständige) Akteneinsicht durch einen Verteidiger zwingend erforderlich ist.
Schließlich wird - wie die Verteidigung zutreffend ausführt - für die Klärung der Tatvorwürfe auch die Vernehmung der Mitangeklagten Y. von Bedeutung sein. Auch hier wäre die Angeklagte an einer wirksamen Verteidigung gehindert, wenn sie Vorhalte und Fragen nur vermittelt über die Vorsitzende stellen könnte.
(2)
Auch die Rechtlage ist schwierig, und zwar betreffend den subjektiven Tatbestand des § 164 StGB, der eine Abgrenzung der allein tatbestandlichen Absicht, ein Verfahren herbeizuführen, von anderen Vorsatzformen verlangt. Anders als bei vielen Normen des Kernstrafrechts (etwa Diebstahl oder Körperverletzung) reicht hier die Möglichkeit einer laienhaften Einschätzung des Rechts nicht aus, um sich ausreichend zu verteidigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog.
Fundstellen