Entscheidungsstichwort (Thema)
Produkthaftung: Fehlerhaftigkeit einer Metall-auf-Metall-Großkugelkopf-Hüftprothese, Schmerzensgeldanspruch wegen zusätzlich notwendiger Kontrolluntersuchungen
Leitsatz (amtlich)
1. Liegen alle in Frage kommenden Ursachen eines multifaktoriellen Vorgangs, die für den Fehler eines konkreten Produkts (Metall-auf-Metall-Großkugelkopf-Hüftprothese) ursächlich sein können, im Verantwortungsbereich des Herstellers, ist dieser für den Fehler des Produkts auch dann verantwortlich, wenn sich isoliert für keine der Ursachen der sichere Nachweis der Ursächlichkeit führen lässt und der Fehler nicht bei allen Produkten der Reihe auftritt.
2. Die Haftung ist nach § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG nicht ausgeschlossen, wenn die potenzielle Gefährlichkeit des Produkts zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des konkreten Produkts (nicht des erstmaligen Inverkehrbringens der Produktreihe) nach dem neuesten Stand der Wissenschaft hätte erkannt werden können. Dabei kommt es nicht auf die Erkennbarkeit des konkreten Fehlers des schadensstiftenden Erzeugnisses, sondern auf die objektive Erkennbarkeit der potenziellen Gefährlichkeit des Produkts, d.h. des mit der gewählten Konzeption allgemein verbundenen Fehlerrisikos an. Zum neuesten Stand der Technik gehören nicht nur die allgemein anerkannten Regeln der Technik bzw. die allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Auch vereinzelte Erkenntnisse können den „Stand” der Wissenschaft und Technik bestimmen. Je schwerwiegender die Gefahren sind, die aufgrund der Minderheitsauffassungen drohen, desto eher ist der Hersteller gehalten, diesen Ansichten nachzugehen.
3. Die durch die Notwendigkeit bedingte Beeinträchtigung, sich einmal jährlich einer ärztlichen Kontrolluntersuchung mit Durchführung einer Röntgenaufnahme zu unterziehen, und die bloße Sorge, es könnte möglicherweise ein Austausch einer implantierten Hüftprothese erforderlich werden, sind nicht so erheblich, dass dies die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes rechtfertigt.
Tenor
1. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner der Klägerin wegen ihrer bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung eingetretenen und sicher beurteilbaren zukünftigen Nichtvermögenschäden aus der Implantation einer Hüft-Totalendoprothese rechtsseitig am 02.06.2005 ein Schmerzensgeld von 25.000,00 EUR und wegen der materiellen Schäden einen Betrag von 1.247,27 EUR jeweils nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 23.10.2010 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin alle weiteren gegenwärtigen und zukünftigen materiellen sowie alle zukünftigen immateriellen Schäden zu ersetzen, die die Klägerin aus den Implantationen von Hüft-Totalendoprothesen rechtsseitig am 02.06.2005 und linksseitig am 28.09.2006 erleidet, soweit die Ansprüche der Klägerin nicht kraft Gesetz auf Versicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
3. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin weitere 700,32 EUR für vorgerichtliche Kosten nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 23.10.2010 zu zahlen.
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
5. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 28 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 72 % zu tragen. Von den durch die Streithilfe verursachten Kosten haben die Beklagten als Gesamtschuldner 72 % zu tragen. Im Übrigen trägt die Streithelferin ihre Kosten selbst.
6. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Klägerin verfolgt gegen die Beklagten Ansprüche auf Schmerzensgeld und Schadensersatz aus Produkthaftung und unerlaubter Handlung wegen des Inverkehrbringens fehlerhafter Hüftprothesen. Bei der Klägerin wurden in den Jahren 2005/2006 in einem Klinikum der Streithelferin der Klägerin beide Hüftgelenke durch sogenannter Großkugelkopfprothesen mit einer Metall-Metall-Gleitpaarung, welche die Beklagte zu 1) hergestellt hatte, ersetzt. Die rechte Prothese wurde wegen von der Klägerin geäußerter Beschwerden im Jahr 2010 ausgetauscht. Am Landgericht Freiburg sind mehr als 100 vergleichbare Verfahren anhängig.
Die im Ausland ansässige Beklagte zu 1) ist Herstellerin von Hüftprothesen, u.a. sogenannter Großkugelkopfprothesen bestehend aus mehreren Elementen. Die Beklagte zu 2), eine Tochtergesellschaft der Beklagten zu 1), führte die Prothesen zum Zwecke des Vertriebs in den Europäischen Wirtschaftsraum ein und war mit dem Vertrieb in Deutschland beauftragt. Das Großkugelprothesensystem besteht aus folgenden Elementen:
- In den Oberschenkelknochen, dessen Gelenkkopf entfernt wurde, wird der Prothesenschaft eingeschlagen, der den künstlichen Gelenkkopf auf einem konisch geformten Stiel (im Folgenden: „Schaftkonus”) aufnimmt.
- Am Prothesenschaft wird der halbkugelförmige Gelenkkopf, der unterschiedlich groß sein kann, befestigt. Der obere, halbrunde Teil des ...