Leitsatz (amtlich)
1. Die Zuständigkeit des Gerichtsvorsitzenden zur Gewährung von Akteneinsicht (§§ 406e Abs. 4 S. 1 2. Alt., § 478 Abs. 1 S. 1 2. Alt. StPO) bezieht sich ersichtlich nur auf seine originäre Entscheidungskompetenz bei gerichtlicher Anhängigkeit des Verfahrens und nicht darauf, dass er zur Entscheidung von Anträgen auf gerichtliche Entscheidung gegen Verfügungen der Staatsanwaltschaft allein zuständig wäre.
2. In Wirtschaftsstrafsachen entscheidet ausschließlich die Wirtschaftsstrafkammer über Anträge auf gerichtliche Entscheidung gegen staatsanwaltschaftliche Verfügungen, die die Gewährung von Akteneinsicht betreffen. Dies gilt auch, wenn die Staatsanwaltschaft ihren Sitz nicht am Sitz der Wirtschaftsstrafkammer hat.
3. Es bleibt offen, ob der Insolvenzverwalter über das Vermögen einer durch Straftaten geschädigten Kapitalgesellschaft Verletzter im Sinne des § 406e StPO ist. Jedenfalls ist ihm gerade in staatsanwaltschaftliche Finanzermittlungsvorgänge regelmäßig nach § 475 StPO Akteneinsicht zu gewähren.
4. Der in dieser Gewährung von Akteneinsicht liegende nicht unerhebliche Eingriff in das Grundrecht eines Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung ist hierbei gerechtfertigt: Der Insolvenzverwalter ist zur Erfüllung seiner gesetzlichen Verpflichtung zur Verwaltung und Mehrung der Masse regelmäßig darauf angewiesen, aufzuklären, ob er etwa noch gegen den Beschuldigten von Vermögensdelikten zum Nachteil der insolventen Kapitalgesellschaft mit Aussicht auf Erfolg Ansprüche erheben kann. Hierzu muss er nicht nur die Vermögensverhältnisse der Beschuldigten kennen, sondern mit Hilfe der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten auch feststellen können, inwieweit es möglicherweise „bemakelte” Transfers von Vermögensbestandteilen der Kapitalgesellschaft oder des Beschuldigten gegeben hat.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1; StPO § 406e Abs. 1, 4 S. 2, § 161a Abs. 3, § 475 Abs. 1, § 478 Abs. 3 S. 1, § 473 Abs. 1, 4; GVG § 73 Abs. 1, § 74c Abs. 2, § 76 Abs. 1
Tenor
I. Die Verfügung der Staatsanwaltschaft Hannover vom 20. Oktober 2006 wird dahingehend abgeändert, dass
- das Akteneinsichtsgesuch der Beteiligten zu 1) zurückgewiesen wird,
- den Beteiligten zu 3) und 4) keine Akteneinsicht in die Vorgänge gewährt werden, die die Vermögensverhältnisse des Beschuldigten X… betreffen.
II. Im Übrigen werden die Anträge auf gerichtliche Entscheidung zurückgewiesen.
III. Die Verfahrensgebühr wird für den Beschuldigten X… auf 1/4 ermäßigt.
- Von den Auslagen der Landeskasse trägt der Beschuldigte X… 1/8 und die Beschuldigte W… 1/2. Die Landeskasse trägt 3/4 der dem Beschuldigten X… entstandenen notwendigen Auslagen.
- Im übrigen findet eine Erstattung von Auslagen nicht statt.
Tatbestand
A.
Die Staatsanwaltschaft Hannover – Zentralstelle für Wirtschaftsstrafsachen – führt ein Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigten wegen des Verdachts der Beihilfe zur Untreue beziehungsweise der Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr.
Zu diesem Ermittlungsverfahren werden Finanzermittlungen geführt, die aus organisatorischen Gründen ein eigenes Aktenzeichen erhalten haben. Nach der Anklageerhebung gegen Mitbeschuldigte werden die weiteren Finanzermittlungen – ohne Vervielfältigung der bisherigen Akten – unter einem neuen Aktenzeichen geführt.
Der gegenwärtig inhaftierte Ehemann der Beschuldigten war Gründer und Geschäftsführer der im Geldtransportwesen tätigen Unternehmensgruppe H. Die beschließende Kammer verhandelt gegenwärtig gegen ihn wegen des Vorwurfs der Untreue zum Nachteil der Kunden seiner Unternehmensgruppe in 161 Fällen mit einem Schaden von ca. 280 Millionen EUR, des Bankrotts und der Insolvenzverschleppung. Er soll – was nicht Gegenstand der Hauptverhandlung vor der Kammer ist – diese Gesellschaften zudem durch unberechtigte Entnahmen in Millionenhöhe geschädigt haben und unter anderem über 2 Millionen EUR, die Gesellschaften der H.-Gruppe zugestanden haben, über sein Gehaltskonto an die Beschuldigte und die gemeinsamen Töchter verschoben haben. Die Beschuldigte bezog, ohne zu arbeiten, Gehalt einer Gesellschaft der Unternehmensgruppe. Gegen sie ist ferner ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Geldwäsche anhängig, weil sie gemeinsam mit ihren Töchtern – wohl aus Entnahmen ihres Ehemannes bei seiner Unternehmensgruppe stammende – Gelder von Konten in der Schweiz und Spanien nach der Inhaftierung ihres Ehemanns auf Treuhandkonten ihres Steuerberaters transferiert haben soll, um sie dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden und der Gläubiger der Unternehmensgruppe zu entziehen.
Der Beschuldigte X leitete die Gelddisposition einer bundesweit tätigen Genossenschaft, die zum Kundenkreis der Unternehmensgruppe H. gehörte und die durch den Zusammenbruch der Gruppe Schäden in Millionenhöhe erlitten haben soll. Der Beschuldigte soll von Herrn W… mehrfach erhebliche Geldbeträge erhalten haben und deswegen davon abgesehen haben, seine Vorgesetzten über erhebliche Unregelmäßigkeiten (verspätete Einzahlungen)...