Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Arzneimittel. Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten. massive Auswirkungen einer Zwangsstörung können schwerwiegende Erkrankung iSv § 31 Abs 6 S 1 SGB 5 sein. begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes im Einzelfall

 

Leitsatz (amtlich)

1. Massive Auswirkungen einer Zwangsstörung können eine schwerwiegende Erkrankung iS von § 31 Abs 6 S 1 SGB V sein.

2. Eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, dass im konkreten Fall eine dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann, liegt vor, wenn der Arzt nach Beginn der Standardtherapie das Auftreten von Nebenwirkungen beschreibt und außerdem darlegt, weshalb eine Umstellung auf andere Therapien dem Versicherten im konkreten Fall nicht zumutbar ist.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 30.07.2018 abgeändert und die Antragsgegnerin verpflichtet, den Antragsteller vorläufig bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens nach vertragsärztlicher Verordnung mit Medizinal-Cannabisblüten zu versorgen.

Die Antragsgegnerin erstattet die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über die Versorgung des Antragstellers mit Medizinal-Cannabisblüten.

Der am … 1996 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Wegen vorwiegend Zwangshandlungen (F42.1) und mittelgradiger depressiver Episode (F32.1) wurde der Antragsteller bereits in der Zeit vom 23.09.2010 bis 08.04.2011 in der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz des Zentrums für psychosoziale Medizin H. ambulant behandelt. Am 01.10.2016 nahm er ein Studium an der Pädagogischen Hochschule H. auf (Lehramt Grundschule), welches er krankheitsbedingt wegen der Zwangsstörung unterbrechen musste (genehmigte Urlaubssemester wegen Krankheit SS 2017, WS 2017/18 und WS 2018/2019). Seit 31.08.2017 führt er eine Verhaltenstherapie bei Dipl-Psych G. durch.

Am 26.03.2018 beantragte der Antragsteller die Genehmigung einer Therapie mit Cannabisblüten. Hierzu legte er den Arztfragebogen zur Verwendung von Cannabinoiden durch den Allgemeinmediziner v. T. vor, welcher die Verordnung von Cannabisblüten aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung befürwortete. Seit Anfang 2007 habe sich der Antragsteller mit illegalem Cannabis versorgt, zeitweise seien Privatrezepte ausgestellt worden (vorgelegt Privatrezepte vom 29.09.2017, 18.01.2018 und 20.03.2018). Der Einsatz von Cannabis habe sich sehr positiv auf die Zwangserkrankung ausgewirkt, seine Konzentrationsfähigkeit habe sich erheblich gesteigert. Vorgelegt wurde zusätzlich eine Therapiebescheinigung von Dipl-Psych G. vom 22.09.2017, welche bestätigte, dass eine Abhängigkeitserkrankung hinsichtlich des regelmäßig konsumierten Cannabis diagnostisch via SKID-I Interview ausgeschlossen worden sei.

Die Antragsgegnerin teilte dem Antragsteller mit Schreiben vom 26.03.2018 mit, dass eine medizinische Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erfolge. Mit Gutachten vom 13.04.2018 führte Dr. B. für den MDK aus, bei dem bisherigen Verlauf der Zwangsstörung sei von einer schwerwiegenden Erkrankung auszugehen. Nach der S3-Leitlinie sei als Standardtherapie Verhaltenstherapie vorgesehen, zur Arzneimitteltherapie würden selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) als erste Wahl empfohlen. Arzneimitteltherapie sei bislang nicht zum Einsatz gekommen, auch keine fachpsychiatrische Behandlung trotz angeblich wirkungsloser Verhaltenstherapie. Eine „begründete Einschätzung“ des behandelnden Arztes, warum die Standardtherapie nicht zum Einsatz kommen könne, liege zwar vor, sei aber nicht nachvollziehbar. Argumentiert werde nur mit potentiell möglichen Nebenwirkungen.

Mit Bescheid vom 19.04.2018 lehnte die Antragsgegnerin die Genehmigung der Behandlung mit Cannabis ab. Hiergegen legte der Antragsteller am 27.04.2018 Widerspruch ein. Die Beklagte schaltete erneut den MDK ein. Dr. B. führte unter dem 14.06.2018 aus, dass nunmehr die Voraussetzungen von § 31 Abs 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) vollständig erfüllt seien. Zwischenzeitlich habe sich der Antragsteller in fachärztlich-psychiatrische Behandlung begeben. Es sei Escitalopram eingesetzt worden, worunter es zu Nebenwirkungen (Libidoverlust, Appetitlosigkeit, Übelkeit, innere Unruhe, Nervosität, Schlafstörungen) gekommen sei. Danach sei auf Sertralin umgestellt worden, worunter ebenfalls Nebenwirkungen aufgetreten seien. Auch der Psychiater A. empfehle deshalb die Verordnung von Cannabisblüten.

Die Antragsgegnerin wandte sich daraufhin erneut an den MDK. Von weiteren Ärzten seien psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide und ein Abhängigkeitssyndrom dokumentiert worden. Dr. B. führte unter dem 14.06.2018 aus, dass der Zeitpunkt der Diagnosen nicht mitgeteilt worden sei, weshalb ein aktuell (nach September 2017) entwickeltes...

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