Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsprüfung. Arbeitnehmerüberlassung. Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen. Arbeitgeber. Verleiher. Tarifvertrag. CGZP. fehlende Tariffähigkeit. BAG-Beschluss. Verletzung der Aufzeichnungspflicht. Schätzungsbefugnis des Rentenversicherungsträgers bzgl Arbeitsentgelt
Leitsatz (amtlich)
Es ist fraglich, ob ein Arbeitsgeber, der Arbeitnehmer verliehen und in den Arbeitsverträgen auf mit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen geschlossene Tarifverträge verwiesen hat, bis zum Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 14.12.2010 - 1 ABR 19/10 seine Aufzeichnungspflichten verletzt hat und der Rentenversicherungsträger deshalb berechtigt ist, die Höhe der Arbeitsentgelte zu schätzen.
Normenkette
SGG § 86b Abs. 1 Nr. 2, § 86a Abs. 3 S. 2; SGB IV § 28p Abs. 1, § 22 Abs. 1 S. 1, § 28f Abs. 1 S. 1, § 14 Abs. 1 S. 1; AÜG § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2, § 10 Abs. 4, § 12 Abs. 1 S. 3
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Heilbronn vom 27. September 2012 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird endgültig für das erstinstanzliche Verfahren auf € 9.039,77 und für das Beschwerdeverfahren auf € 8.720,01 festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin wendet sich im Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen einschließlich Umlagen nach dem bis 31. Dezember 2005 geltenden Lohnfortzahlungsgesetz (LFZG) und dem seit 1. Januar 2006 geltenden Aufwendungsausgleichsgesetz (AAG) sowie für das Insolvenzgeld (im Folgenden einheitlich Gesamtsozialversicherungsbeiträge) seitens der Antragsgegnerin.
Die Antragstellerin betreibt seit 2006 mit Erlaubnis nach § 1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) ein Unternehmen im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung. Sie beschäftigt ca. 300 Leiharbeitnehmer. In den Arbeitsverträgen wurde auf die vom Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister e. V. (AMP) und der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) geschlossenen Tarifverträge verwiesen. Auf der Grundlage der dort vereinbarten Vergütungen wurden Gesamtsozialversicherungsbeiträge abgeführt sowie Meldungen und Beitragsnachweise abgegeben.
Am 27. September 2010 führte die Antragsgegnerin bei der Antragstellerin eine stichprobenweise Betriebsprüfung für den Zeitraum vom 23. Mai 2006 bis 31. Dezember 2009 durch und forderte mit Bescheid vom selben Tag Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von € 768,07 für die Jahre 2007 bis 2009 wegen der Privatnutzung eines Firmenfahrzeugs durch eine Arbeitnehmerin nach. Die vom Arbeitgeber übernommenen Steueranteile seien als geldwerter Vorteil ebenfalls sozialversicherungspflichtig.
Mit Beschluss vom 14. Dezember 2010 stellte das Bundesarbeitsgericht (≪BAG≫ 1 ABR 19/10 in juris) die Unwirksamkeit des Tarifvertrages zwischen der AMP und der CGZP fest. Mit Schreiben vom 22. Dezember 2011 wies die Antragsgegnerin die Antragstellerin darauf hin, dass aufgrund der festgestellten Tarifunfähigkeit der CGZP die von ihr geschlossenen Tarifverträge von Anfang an unwirksam gewesen seien, wobei guter Glaube an die Tariffähigkeit nach der Rechtsprechung des BAG (Urteil vom 15. November 2006 - 10 AZR 665/05 - in juris) nicht geschützt sei. Die aus der Unwirksamkeit des Tarifvertrages folgenden equal pay-Ansprüche der Arbeitnehmer seien Grundlage für die Bemessung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge. Für am 14. Dezember 2010 unverjährte Beiträge gelte eine Verjährungsfrist von 30 Jahren aus § 25 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV). Da die Antragstellerin für ihre Leiharbeitnehmer Tarifverträge der CGZP angewandt habe, sei diese verpflichtet, Gesamtsozialversicherungsbeiträge nachzuzahlen, entsprechende Entgeltmeldungen abzugeben und korrigierte Lohnnachweise beim Träger der Unfallversicherung einzureichen. Dies gelte für Beschäftigungszeiten seit Dezember 2005 und alle seit Januar 2006 fällig gewordenen Gesamtsozialversicherungsbeiträge. Gemäß § 12 Abs. 1 AÜG gehöre zu den vom Arbeitgeber zu führenden Unterlagen der Überlassungsvertrag zwischen Verleiher und Entleiher, in dem der Entleiher anzugeben habe, welche besonderen Merkmale die Tätigkeit habe, welche berufliche Qualifikation erforderlich sei und welche wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich Arbeitsentgelts für einen vergleichbaren Stammarbeitnehmer gälten. Die Verpflichtung zur Angabe des Arbeitsentgelts eines vergleichbaren Stammarbeitnehmers gelte zwar nicht, soweit ein wirksamer Tarifvertrag das Arbeitsentgelt des Leiharbeitnehmers regele. Da gemäß dem Beschluss des BAG vom 14. Dezember 2010 der Tarifvertrag von Anfang an unwirksam gewesen sei, lebe diese Verpflichtung jedoch wieder auf.
Die Antragsgegnerin führte vom 30. März 2012 bis 2. August 2012 eine Betriebsprüfung über den Zeitraum 23. Mai 2006 bis 2. August 2012 bei der Antragste...