Entscheidungsstichwort (Thema)
Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Absenkung des Arbeitslosengeld II. Beginn der Leistungskürzung
Leitsatz (amtlich)
1. Vorläufiger Rechtsschutz gegen einen Verwaltungsakt, der die Absenkung oder den Wegfall von Arbeitslosengeld II feststellt, ist nach § 86b Abs 1 SGG zu gewähren, da der Widerspruch hiergegen gem § 39 Nr 1 SGB 2 keine aufschiebende Wirkung hat.
2. Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung ist auch zu berücksichtigen, dass die Auslegung der Vorschrift des § 31 Abs 6 S 1 SGB 2 im Hinblick auf ihren Wortlaut und den rechtssystematischen Zusammenhang Schwierigkeiten bereitet und die Gesetzesmaterialien nicht aufschlussreich sind.
3. Aus dem Wortlaut von § 31 Abs 6 S 1 SGB 2 ist zu schließen, dass der Beginn der Leistungskürzung nicht auf einen späteren Zeitpunkt als den Monat nach dem Wirksamwerden des Verwaltungsaktes verlegt werden kann.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 17. Februar 2006 aufgehoben.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Bescheide vom 20. Dezember 2005 und die Widerspruchsbescheide vom 25. Januar 2006 (S 4 AS 308/06, verbunden zu S 4 AS 58/06) wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin hat die seit 1. Februar 2006 absenkungsbedingt einbehaltenen Leistungen an den Antragsteller auszuzahlen.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Antrags- und Beschwerdeverfahrens dem Grunde nach zu erstatten.
Gründe
Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht (SG) Mannheim nicht abgeholfen hat (§ 174 SGG), ist zulässig und begründet.
Der Senat konnte entscheiden, ohne dem Berichtigungsantrag des Antragstellers (§ 139 SGG) nachgegangen zu sein, denn bei ohne mündliche Verhandlung ergangenen Beschlüssen - wie hier dem angefochtenen Beschluss des SG - kommt eine Tatbestandsberichtigung nicht in Betracht (vgl. § 142 Abs. 1 SGG; ferner Bundessozialgericht ≪BSG≫, Beschluss vom 13. September 2003 - 4 BS (A) 1/93 - ≪nicht veröffentlicht≫; Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 139 Rdnr. 2a).
Rechtsgrundlage für den vom Antragsteller begehrten einstweiligen Rechtsschutz ist die Bestimmung des § 86b SGG; dabei ermöglicht Abs. 1 a.a.O. in Anfechtungssachen u.a. die gerichtliche Korrektur der fehlenden aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage, während Abs. 2 a.a.O. den Fall der einstweiligen Anordnung in Vornahmesachen regelt. Das vorliegende Rechtsschutzverlangen ist unter die Bestimmungen des § 86b Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGG zu fassen. Denn durch die hier umstrittenen, auf die Sanktionsnormen (vgl. Bundestags-Drucksache 15/1516 S. 47, 61) des § 31 Abs. 2 und 3 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) gestützten Bescheide vom 20. Dezember 2005 (Widerspruchsbescheide vom 25. Januar 2006) über die Absenkung der - zuletzt mit Bescheid vom 9. November 2005 für die Zeit vom 1. Januar bis 30. April 2005 bewilligten - Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes um jeweils 10 v.H. ab 1. Februar 2006 wird in die durch die Leistungsbewilligung erlangte Rechtsposition des Antragstellers eingegriffen (vgl. Landessozialgericht ≪LSG≫ Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 30. Januar 2006 - L 9 AS 17/06 ER - ≪juris≫; Berlit in LPK-SGB II, 1. Auflage, § 31 Rdnr. 123 f.; Gröschel-Gundermann in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 31 Rdnr. 66), und zwar unabhängig davon, ob es hierzu zusätzlich - wie die Antragsgegnerin meint - einer kassatorischen Entscheidung nach § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) bedürfte oder ob § 31 SGB II den Bestimmungen der §§ 45 ff. SGB X grundsätzlich vorgeht (so Rixen in Eicher/Spellbrink, SGB II, 1. Auflage, § 31 Rdnr. 59; Eicher, a.a.O., § 39 Rdnr. 14; allerdings differenzierend im Hinblick auf § 31 Abs. 4 Nr. 3 SGB II Rixen, a.a.O., § 31 Rdnr. 60; Eicher, SGb 2005, 553, 557). Im Gegensatz zur Leistungskürzung nach der vergleichbaren - indes als „Hilfenorm“ (vgl. Bundesverwaltungsgericht BVerwGE 67, 1, 5 f.; 98, 203, 204 f.) ausgelegten - Vorläuferregelung des § 25 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG - (vgl. jetzt §§ 26, 39 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB XII≫) kann deshalb im Rahmen des § 31 SGB II interessengerechter Rechtsschutz regelmäßig nicht über die einstweilige Anordnung gesucht werden (zu Ausnahmen vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 30. Januar 2006 a.a.O.; Gröschel-Gundermann in Linhart/Adolph, a.a.O.; ferner zu § 25 BSHG Verwaltungsgerichtshof ≪VGH≫ Baden-Württemberg - 7 S 2137/00 - ≪juris≫; Verwaltungsgericht ≪VG≫ Stuttgart, Beschluss vom 20. März 2003 - 7 K 5775/02 - ≪nicht veröffentlicht≫; VG Aachen, Beschluss vom 12. August 2004 - 2 L 719/04 - ≪juris≫). Da dem Widerspruch des Antragstellers gegen die Bescheide vom 20. Dezember 2005 sowie seiner (am 26. Januar 2006 rechtzeitig erhobenen) Klage kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § ...