Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör. faires Verfahren. Fahrtkosten für mittellosen Kläger
Leitsatz (amtlich)
1. Der Anspruch auf Gewährleistung rechtlichen Gehörs - auch in der mündlichen Verhandlung - ist Teil des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren. /
2. Das Sozialgericht ist zur Vermeidung eines der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Verfahrensmangels grundsätzlich gehalten, einem mittellosen Kläger die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung durch Bewilligung von Fahrtkosten zu ermöglichen. Dies ist außerhalb der Bewilligung von Prozesskostenhilfe möglich und geboten. Im Rahmen der richterlichen Prüfung dieses Anspruchs sind Verwaltungsvorschriften, die die Bewilligung von Reiseentschädigungen an mittellose Personen vorsehen (hier: Verwaltungsvorschrift des Justizministeriums vom 27.4.2006 - VwV Reisentschädigung - (Die Justiz 2006, 245) heranzuziehen.
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Dezember 2006 gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes zugelassen.
Gründe
Die gemäß § 145 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte sowie gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGG statthafte Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist auch begründet, weil die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG gegeben sind.
Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 500,00 Euro nicht übersteigt. Dies gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (Satz 2 a.a.O.). Beide Voraussetzungen sind in Anbetracht des Beschwerdewerts - der Kläger schätzt den Wert der beanspruchten Gleitsichtbrille selbst auf unter 500,00 Euro - nicht gegeben. Das Sozialgericht Karlsruhe (SG) hat im angefochtenen Urteil die Berufung auch nicht zugelassen.
Nach § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG ist u.a. die Berufung zuzulassen, wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Vorliegend rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ≪GG≫) sowie einen Verstoß gegen das aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren, weil er - mangels ausreichender finanzieller Mittel - am Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG vom 19. Dezember 2006 nicht habe teilnehmen können, nachdem ihm auf sein rechtzeitig mit Schreiben vom 9. November 2006 gestelltes Begehren auf Reisekostenbeihilfe im gerichtlichen Schreiben vom 10. November 2006 lediglich mitgeteilt worden sei, dass sein persönliches Erscheinen nicht angeordnet werde.
Der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs als Ausfluss des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren liegt hier vor. Das angefochtene Urteil kann auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen. Denn der Kläger war aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen gehindert, an dem auf den 19. Dezember 2006 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Zwar greift die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs als Zulassungsgrund im Rahmen des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG grundsätz1ich nur durch, wenn durch den Beschwerdeführer aufgezeigt wird oder sonst wie ersichtlich ist, dass entscheidungserhebliches Vorbringen wegen dieses Verfahrensfehlers verhindert worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Februar 2007 - L 7 SO 2173/06 NZB - m.w.N. ≪juris≫). Indessen sind im Allgemeinen dann keine weiteren Darlegungen zur Entscheidungsrelevanz erforderlich, wenn der Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl. Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil vom 21. August 2002 - B 9 VJ 1/02 R - ≪juris≫; BSG, Urteil vom 12. Februar 2003 - B 9 SB 5/02 R - ≪juris≫). Denn die mündliche Verhandlung ist “Kernstück„ des gerichtlichen Verfahrens, sie hat zentrale Gewährleistungsfunktion für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör und dient der erschöpfenden Erörterung des Streitstoffs mit ihnen (vgl. BSGE 44, 292 f. = SozR 1500 § 124 Nr. 2; BSGE 53, 83, 85 f. = SozR a.a.O. Nr. 7; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr. 33), sodass bei einer aufgrund des Gehörsverstoßes verhinderten Terminswahrnehmung die Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensfehlers in der Regel zu vermuten ist.
So liegt der Fall auch hier. Denn der nicht am Sitz des SG, sondern rund 45 km entfernt im E. wohnhafte Kläger war, was keiner weiteren Ermittlungen bedarf, aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse als Sozialhilfeempfänger nicht ausreichend in der Lage, die Reisekosten zum Termin zur mündlichen Verhandlung vom 19. Dezember 2006 zu bestreiten, ...