Entscheidungsstichwort (Thema)
Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung. Diabetes mellitus. Zwischenmahlzeiten. Vollkost. Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Antizipiertes Sachverständigengutachten. Streitgegenstand
Leitsatz (redaktionell)
1. Jedenfalls dann, wenn der Grundsicherungsträger über einen etwaigen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung nicht in einem gesonderten Bescheid entschieden hat, stellt die Frage des Mehrbedarfs keinen von der Entscheidung über die Regelleistung getrennten Streitgegenstand dar.
2. Die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge zur Gewährung von Krankenkostzulagen stellen eine Orientierungshilfe dar, die im Regelfall zur Feststellung des angemessenen Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB II herangezogen werden können. Sie gelten nur dann nicht, wenn im Einzelfall Hinweise für einen abweichenden Mehrbedarf bestehen.
Normenkette
SGB II § 21 Abs. 5
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. Juni 2010 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
Im Streit steht die Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung für die Zeit vom 01. März 2009 bis 31. August 2009.
Der Kläger ist 1951 geboren und bezieht seit 01. Januar 2005 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Seit 01. April 2007 erhält er Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit, die nicht ausschließlich auf seinem Gesundheitszustand, sondern auch auf den Verhältnissen des Arbeitsmarktes beruht (sog. Arbeitsmarktrente). Nach den Ausführungen unter anderem im Rentenbescheid vom 03. März 2004 und den aktenkundigen Unterlagen leidet der Kläger an Diabetes mellitus Typ II (mit Insulintherapie), einem Sekundärschaden im Bereich der Augen, an Bluthochdruck, an Adipositas, einer Verschleißerkrankungen der Hüftgelenke ohne Bewegungseinschränkung und der Lendenwirbelsäule, an wiederkehrenden Kreuzschmerzen, einer geringen Hochtoninnenschwerhörigkeit rechts, einer mittel- bis hochgradigen Innenohrschwerhörigkeit links sowie Tinnitus und Durchschlafstörungen. Darüber hinaus steht der Kläger seit vielen Jahren wegen einer Psoriasis vulgaris in ärztlicher Behandlung.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger ab Leistungsbeginn monatlich einen Zuschlag wegen kostenaufwändiger Ernährung.
Mit Bescheid vom 12. Februar 2009 bewilligte die Beklagte für die Zeit vom 01. März 2009 bis 31. August 2009 351 € monatlich an Grundsicherungsleistung sowie Kosten der Unterkunft in Höhe von 205,75 €. Im Bescheid ist ausgeführt, dass nach bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen bei seiner Erkrankung, für die er bislang einen pauschalen Mehraufwand erhalten habe, ein erhöhter Ernährungsbedarf bestanden habe. Die Kosten für diese aufwendigere Ernährung aufgrund einer Erkrankung seien ihm in Form eines pauschalen Mehrbedarfs zusätzlich zu der Regelleistung bezahlt worden. Nach neueren medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen sei allerdings nicht mehr von einem erhöhten Ernährungsbedarf auszugehen. Diese Erkenntnisse seien in die neuen Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge vom 01. Oktober 2008 eingeflossen. Man orientiere sich an diesen Empfehlungen. Für die Erkrankung, für die er bislang einen ernährungsbedingten Mehrbedarf erhalten habe, könne ihm daher künftig kein Mehrbedarf mehr gewährt werden.
Dagegen legte der Kläger am 26. März 2009 Widerspruch ein und brachte vor, die Zulage für erhöhten Ernährungsbedarf sei ihm auch künftig zu gewähren. Er sei insulinpflichtiger Diabetiker und zu 80 % schwerbehindert.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30. März 2009 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger habe zwar durch hausärztliches Attest nachgewiesen, dass er an Diabetes mellitus (insulinpflichtig) erkrankt sei und eine Diabetesdiät benötige. Allerdings sei nach den aktuellen Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, die den derzeit maßgeblichen wissenschaftlichen Erkenntnisstand darstellten, bei Diabetes mellitus ein Ernährungsmehrbedarf nicht mehr zu bejahen. Vielmehr sei auch bei dieser Erkrankung eine Vollkost angezeigt, die jedoch mit der Regelleistung zu finanzieren sei.
Dagegen hat der Kläger am 30. April 2009 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben und zur Begründung sein Vorbringen im Widerspruchsverfahren wiederholt. Ergänzend hat er vorgetragen, dass er versuchen müsse, weniger fettreich und zuckerarm zu essen. Die entsprechenden Produkte seien teurer als normale. Er habe darüber hinaus im Monat 90 bis 93 Zwischenmahlzeiten einzunehmen; dafür würde gerade der derzeit gestoppte Zuschuss reichen.
Mit Urteil vom 10. Juni 2010, das der seit Ende Mai bestellten Bevollmächtigten am 15. Juni 2010 zugestellt worden ist, hat das SG die Klage abgewiesen, gestützt auf die Empfehlungen des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge vom Oktober 2008. Danach sei...