Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. anderes Aufenthaltsrecht. schwangere an HIV erkrankte Unionsbürgerin. Vaterschaftsanerkennung durch Ausländer mit Aufenthaltstitel bei langjährigem Aufenthalt im Inland. aufenthaltsrechtliche Vorwirkung einer Familiengründung. verfassungskonforme Auslegung

 

Leitsatz (amtlich)

Bei einer schwangeren an HIV erkrankten bulgarischen Staatsbürgerin, die ein Kind von einem ausländischen Staatsbürger erwartet, der sich seit mehr als 8 Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhält und das Kind gegenüber dem Jugendamt anerkannt hat, kann ein Aufenthaltsrecht wegen aufenthaltsrechtlicher Vorwirkungen jedenfalls dann anzunehmen sein, wenn eine Rückkehr nach Bulgarien zur Durchführung des Sichtvermerkverfahrens die Gesundheit des ungeborenen Kindes beeinträchtigen würde.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 13.04.2017 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen zu erstatten. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes darum, ob die Antragstellerin Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) hat. Der Antragsgegner wendet sich mit seiner Beschwerde gegen seine Verpflichtung zur Leistungserbringung im Wege der einstweiligen Anordnung durch Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart (SG) vom 13.04.2017 für den Zeitraum ab dem 03.03.2017 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 02.09.2017.

Die 1980 geborene ledige Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige und reiste nach ihren Angaben im Dezember 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seit September 2016 bewohnt sie eine ca. 40 m² große Wohnung in K./T., in der sie seit Dezember 2016 gemeinsam mit ihrem Vater, der nach ihren Angaben SGB II-Leistungen bezieht, lebt. Am 04.05.2017 kündigte sie dem Antragsgegner gegenüber an, ihr Vater werde aus der Wohnung ausziehen, da sie schwanger sei und die Wohnung ansonsten zu klein sei. Die Kaltmiete für die Wohnung beträgt 270 € monatlich, die Nebenkostenvorauszahlung 80 €. Die Antragstellerin ist schwanger, der voraussichtliche Entbindungstermin ist der 30.08.2017 (Bescheinigung der Frauenärztin Dr. F. vom 16.01.2017). Am 06.04.2017 erkannte der 1985 in S. geborene türkische Staatsbürger S. E. gegenüber dem K.E. (Urk.-Reg.-Nr. 376/2017) die Vaterschaft des ungeborenen Kindes an, die Antragstellerin erteilte ihre Zustimmung dazu. Beide gaben zudem übereinstimmend an, die elterliche Sorge für das zu erwartende Kind nach § 1626a Abs. 1 Nr. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gemeinsam übernehmen zu wollen. Der Kindsvater hat sich gegenüber dem Kreisjugendamt mit einem Aufenthaltstitel (Nr. Y06VG9VY6) ausgewiesen. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Ehefrau und einem gemeinsamen Kind zusammen. Nach Angaben der Antragstellerin war er stets in Deutschland wohnhaft und arbeitet bei der D. A..

Am 10.01.2017 beantragte die Antragstellerin bei dem Antragsgegner die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II und gab an, von Januar 2015 bis April 2015, von April 2015 bis November 2015, von Dezember 2015 bis Januar 2016 und zuletzt vom 01.09.2016 bis zum 29.12.2016 als Kellnerin in verschiedenen Betrieben beschäftigt gewesen zu sein, zuletzt in der B. I. in K./T.. Dem Leistungsantrag fügte sie die Kopie eines Schreibens des Inhabers dieser Lokalität vom 29.12.2016 bei, wonach sie bei der Arbeit ihren Pflichten nicht nachgekommen sei, immer nach ihrem eigenen Kopf gehandelt habe und seinen Anweisungen nicht gefolgt sei. Sie habe mehr telefoniert als gearbeitet und verantwortungslos gehandelt. In der Arbeitsbescheinigung, die am 02.02.2017 beim Antragsgegner einging, gab er an, der Antragstellerin wegen vertragswidrigen Verhaltens am 29.12.2016 persönlich fristlos gekündigt zu haben. Aus einem Aktenvermerk der antragsannehmenden Sachbearbeiterin über die persönliche Vorsprache der Antragstellerin vom 10.01.2017 geht hervor, dass diese im Erstgespräch spontan angegeben hat, einen Arbeitsvertrag nicht erhalten zu haben. Bei einem persönlichen Telefonat mit Ihrem Arbeitgeber am 27.12.2016 habe sie ihm gegenüber erwähnt, schwanger zu sein. Daraufhin sei sie mit Schreiben vom 29.12.2016 sofort fristlos gekündigt worden. Den Lohn habe sie jeweils in bar erhalten. Dieser sei höher gewesen als die am 27.12.2016 erstellten Lohnabrechnungen für September bis Dezember 2016. Nach Erhalt der Kündigung sei sie beim Anwalt gewesen, habe jedoch keine Kündigungsschutzklage eingereicht. Gemäß dem Vermerk des Antragsgegners vom 13.02.2017 sei die Arbeitslosigkeit von der Antragstellerin zu verantworten. Eine Kündigungsschutzklage sei nicht eingereicht worden.

Mit Bescheid vom 16.02.2017 lehnte der Antragsgegner de...

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