Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Berufung. Erfolg des beklagten Sozialversicherungsträgers hinsichtlich des Hauptantrags. Entscheidung über einen Hilfsantrag im Berufungsverfahren. Beweiserhebung durch Gutachten. Recht auf Anwesenheit einer Begleitperson während der Begutachtung. Verwertbarkeit des Gutachtens. Mangel des Gutachtens. Würdigung durch das Gericht. Schmälerung der Überzeugungskraft
Leitsatz (amtlich)
1. Bei erfolgreicher Berufung zu einem im Hauptantrag vor dem Sozialgericht erfolgreichen Klageverfahren entscheidet das Berufungsgericht - trotz diesbezüglich fehlender erstinstanzlicher Entscheidung - auch über einen vor dem Sozialgericht gestellten Hilfsantrag, der kraft Berufungseinlegung der Beklagten ohne Weiteres Gegenstand des Berufungsverfahrens wird.
2. Das grundsätzliche Recht eines Beteiligten auf eine Begleitperson bei der Begutachtung durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen und die Verwertbarkeit des Gutachtens sind zu unterscheidende Fragestellungen. Hat ein Beteiligter von seinem Recht auf Begleitung im Rahmen der Begutachtung Gebrauch gemacht und besteht die Gefahr, dass durch die Anwesenheit des Dritten das Ergebnis der Exploration und Begutachtung verfälscht wurde, so entfällt dieser Mangel des Gutachtens nicht dadurch, dass die gerichtliche Anordnung eines zumindest zeitweisen Ausschlusses des Dritten von der Begutachtungssituation versäumt wurde. Vielmehr ist ein entsprechender Mangel vom Gericht gleichwohl zu würdigen.
3. Wird in einem neurologisch-psychiatrischen Gutachten nicht hinreichend dargelegt, in welchem konkreten Umfang eine Begleitperson des Probanden während der Begutachtung tatsächlich anwesend war und ggf - auch später - vom Gutachter separat befragt wurde, so erschwert dieser methodische Mangel die Würdigung des Gutachtens und ist geeignet, zumindest seine Überzeugungskraft zu schmälern.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 07.07.2022 aufgehoben, soweit die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.06.2020 zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung an die Klägerin vom 01.01.2022 bis zum 31.12.2024 verurteilt wurde.
Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung hat.
Die 1966 geborene Klägerin ist gelernte Bäckereifachverkäuferin und war noch von 2008 bis 2013 als Bürohilfe in Teilzeit versicherungspflichtig beschäftigt. Nach einem anschließenden Bezug von Sozialleistungen mit Pflichtbeiträgen erhielt sie ausweislich des Versicherungsverlaufs ab Februar 2015 Arbeitslosengeld II, teilweise wiederum parallel zu Pflichtbeitragszeiten, zum Bezug anderer Sozialleistungen oder zur Verrichtung geringfügiger Beschäftigungen.
Am 21.08.2014 wurde im Auftrag der Agentur für Arbeit G1 ein Gutachten mit symptombezogener Untersuchung durch T1 erstellt. Dieser gab als vermittlungs- und beratungsrelevante Gesundheitsstörung eine psychische Erkrankung an. Die Klägerin sei für voraussichtlich bis zu 6 Monate nur im Umfang von unter 3 Stunden täglich leistungsfähig. Medizinische Maßnahmen seien vorrangig, wobei eine teilstationäre Behandlung geplant sei.
Vom 09.05.2019 bis 30.05.2019 befand sich die Klägerin zur stationären Rehabilitation in der Klinik R1. Im betreffenden Entlassungsbericht wurden an Gesundheitsstörungen ein Overlapsyndrom aus intrinsic Asthma bronchiale und COPD (funktionell GOLD II mit Lungenemphysem), eine Nikotinabhängigkeit, eine Fibromyalgie, eine chronische Depression und eine BWS-Skoliose angegeben. Die Tätigkeit als Bürogehilfin sei nur unter 3 Stunden täglich möglich, für leichte Tätigkeiten wurde ein mindestens 6-stündiges tägliches Leistungsvermögen angekreuzt. In der sozialmedizinischen Epikrise wurde ausgeführt, dass die Gesamtbeurteilung im Wesentlichen durch die Begleiterkrankung (rheumatologische Erkrankung und Depression) bestimmt werde. Sodann wurde ausgeführt: „Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist die Patientin zukünftig in der Lage, leichte Arbeiten in einem zeitlichen Umfang von 6 Stunden und mehr auszuüben. Unter Würdigung aller Erkrankungen ist keine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert mehr durchführbar.“
Mit Bescheid vom 30.09.2019 stellte das Landratsamt O1 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 seit 24.07.2019 aufgrund eines Bronchialasthmas und einer Lungenblähung, einer seelischen Störung nebst Tinnitus und chronischem Schmerzsyndrom sowie einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Wirbelsäulenverformung fest. Kein Einzel-GdB von wenigstens 10 ergebe sich aus einer Divertikulitis, Schilddrüsenfunktionsstörungen und einer Refluxkrankheit der Speiseröhre; eine Schuppenflechte sei nicht nachgewiesen.
Am 29.10.2019 beantragte die Klägerin die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung mit der Begründung, n...