Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Sachleistungsanspruch. Arzneimittel. intravenöse Immunglobuline ≪Octagam≫. kein Off-Label-Use bei sekundär-chronischer oder schubförmiger Multipler Sklerose
Leitsatz (amtlich)
Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use von Octagam zur Behandlung der sekundär-chronischen oder der schubförmigen Multiplen Sklerose sind nicht erfüllt (vgl LSG Stuttgart vom 16.9.2005 - L 4 KR 1094/04). Neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die eine andere Beurteilung rechtfertigen würden, sind nicht ersichtlich.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des SG Stuttgart vom 16. Januar 2006 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin eine Therapie mit intravenösen Immunglobulinen (Octagam) zu gewähren und die Klägerin von entsprechenden Kosten freizustellen.
Die am … 1969 geborene Klägerin bezieht eine Rente wegen Erwerbsminderung und ist pflichtversichertes Mitglied der Beklagten. Seit 1992 leidet sie an einer Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose). Sie befindet sich deshalb in Behandlung bei dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M., der im Jahre 2001 einmal monatlich Octagam vertragsärztlich verordnete. Dr. M. wandte sich mit Schreiben vom 20. November 2001 an die Beklagte und teilte mit, zur Behandlung der Encephalomyelitis disseminata sei zunächst wegen häufiger rezidivierender Schübe im akuten Schub immer Cortison angewandt worden. Cortison habe die Klägerin sehr schlecht vertragen. Zur Prophylaxe sei eine Behandlung mit mehreren Interferonen, z.B. Betaferon, Rebif und Avonix, versucht worden. Wegen gravierender Nebenwirkungen hätten die Interferone wieder abgesetzt werden müssen. Er habe einen Therapieversuch mit dem Immunglobulin Octagam unternommen. Dadurch sei es zu einer deutlichen Reduktion der Schübe gekommen. Aufgrund der Budgetierung und weil Immunglobuline zur Therapie der Multiplen Sklerose noch nicht zugelassen seien, bitte er darum, für die Klägerin diese Therapie im Nachhinein zu genehmigen. Seinem Schreiben legte er Arztbriefe des Prof. Dr. B., M.-Hospital S., vom 24. und 25. September sowie 08. Oktober 2001, der über einen operativen Eingriff bei der Klägerin wegen einer Magenperforation (stationäre Aufenthalte vom 07. bis 18 September 2001 und vom 27. September bis 04. Oktober 2001) berichtete, sowie einen Arztbrief des Privatdozenten Dr. N., Neurologische Abteilung des Städtischen Krankenhauses Si., vom 16. Januar 2002, wonach im Rahmen der stationären Behandlung vom 19. bis 22. Dezember 2001 u.a. Immunglobuline (Octagam) zehn Gramm intravenös als Einmal-Gabe verabreicht worden seien und es darunter zu einer leichten Besserung der Symptomatik gekommen sei, bei.
Mit Bescheid vom 04. November 2002 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für das Medikament Octagam ab. Octagam sei zur Behandlung der vorliegenden Erkrankung nicht zugelassen. Der Einsatz dieses Arzneimittels außerhalb seiner Zulassung sei nur bei einer schwerwiegenden oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung, bei der keine andere Therapie verfügbar sei und bei der aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen sei, möglich. Das Bundessozialgericht [BSG] (Urteil vom 19. März 2002 - B 1 KR 37/00 R -= BSGE 89, 184 ff = SozR 3-2500 § 31 Nr. 8) habe festgestellt, dass zur Behandlung von Multipler Sklerose bei Immunglobulinen die Erweiterung der Zulassung nicht beantragt sei und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung nicht veröffentlicht seien.
Die Klägerin legte Widerspruch ein. Das Urteil des BSG vom 19. März 2002 (a.a.O.) treffe Aussagen nur für eine primär chronische Multiple Sklerose. Bei ihr liege aber eine Multiple Sklerose mit schubförmigem Verlauf vor. Multiple Sklerose sei den schweren Erkrankungen zuzuordnen. Andere Behandlungsmöglichkeiten stünden nicht zur Verfügung. Wegen der Gabe von Cortison sei es im September 2001 zu einer Magenperforation gekommen. Ziel der Weiterbehandlung sei es, die Schubhäufigkeit zu reduzieren, was mit dem Therapieversuch mit Immunglobulinen im vergangenen Jahr erfolgreich erreicht worden sei. Entsprechende Versuche mit Interferonen oder Copaxone seien leider gescheitert. Es liege eine österreichische Studie zu Immunglobulinen (AIMS) vor, die bei der schubförmig verlaufenden Erkrankung eine Wirksamkeit habe nachweisen können. Ergänzend führte der Arzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse Dr. S. in einer Stellungnahme vom 20. Januar 2003 aus, dass Behandlungen mit modernen Interferonpräparaten, einschließlich Copaxone, zu so heftigen Nebenwirkungen geführt hätten, dass eine entsprechende Dauertherapie nicht möglich gewesen sei. Durch den früher durchgeführten Versuch einer Behandlung mit Octagam-Infusionen einmal monatlich zehn Gramm sei e...