Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Bestimmung der Reichweite des Unfallversicherungsschutzes eines Selbständigen ist die Gestaltungsfreiheit des Unternehmers in besonderer Weise zu berücksichtigen.

2. Zum Versicherungsschutz eines selbständigen Motorrad-Trainers, der nach der Winterpause am Vortag eines gebuchten Fahrsicherheitstrainings eine Probefahrt auf der anvisierten Fahrstrecke unternimmt um zu prüfen, ob der Fahrbahnbelag sicher und insbesondere ausreichend frei von Rollsplit ist (hier bejaht).

3. Zur Abgrenzung von einer unversicherten Vorbereitungshandlung in einem solchen Fall.

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 28.10.2022 und der Bescheid der Beklagten vom 28.05.2021 in der Form des Bescheides vom 02.12.2021 und des Widerspruchsbescheides vom 22.02.2022 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Unfall des Klägers vom 11.04.2019 ein bei der Beklagten versicherter Arbeitsunfall ist.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um das Vorliegen eines bei der Beklagten versicherten Arbeitsunfalls.

Der Kläger ist 1961 geboren, ausgebildeter Physiotherapeut und arbeitet seit vielen Jahren als selbständiger Motorrad-Fahrtrainer („Bike-Instruktor“). Er bietet verschiedene Fahrsicherheitstrainings in Deutschland und im Ausland an, bei denen er den Fahrstil seiner Fahrschüler mit einer Go-Pro-Kamera filmt, um anschließend das Fahrverhalten seiner Schüler am Bildschirm zu analysieren und hierzu Verbesserungsvorschläge zu geben. Seit 2017 ist er mit dieser Tätigkeit bei der Beklagten gesetzlich unfallversichert. Eine private Krankenversicherung besteht bei der Süddeutschen Krankenversicherung.

Der Kläger stellte sich am Donnerstag, dem 11.04.2019 um 20:43 Uhr in der Notaufnahme der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik T1 (BGU) vor. Hierbei wurde eine dorsal verhakte Erstluxation der linken Schulter festgestellt, welche reponiert wurde. Der Kläger gab an, um 18:30 Uhr mit dem Motorrad gestürzt und von seiner Ehefrau zur Klinik gefahren worden zu sein. Er habe sich selbstständig in der Notaufnahme vorgestellt und angegeben, bei seiner selbständigen Tätigkeit als Verkehrssicherheitstrainer mit ca. 50 km/h ohne eine Beteiligung von anderen Verkehrsteilnehmern mit dem Motorrad gestürzt zu sein. Er habe hierbei einen Helm und eine Schutzjacke und -hose getragen (Durchgangsarztbericht vom 06.08.2019 des B1). In dem Bericht wurden neben der oben genannten Erstdiagnose Schmerzen im Bereich der rechten und linken Schulter sowie am rechten Knie beschrieben. Der Kläger wurde als arbeitsfähig beurteilt und zunächst zulasten der Beklagten weiterbehandelt.

Die Beklagte forderte den Kläger auf, eine Unfallmeldung einzureichen. In seiner Unfallanzeige vom 10.09.2019 gab der Kläger zum Unfallhergang an, ihm sei während einer Probefahrt ohne Beteiligung eines anderen Fahrzeugs der Vorderreifen in einer Kurve der E1-straße in S1 weggerutscht. Dabei habe er sich - zum ersten Mal - die Schulter ausgerenkt. Der Unfallort befindet sich ca. 50 km Fahrstrecke entfernt vom Wohnsitz/der Firmenanschrift des Klägers in S2 (laut Google Maps, wo für diese Strecke eine Fahrtzeit mit dem Auto von 52 min angegeben wird; Aufruf am 27.11.2023).

Am 14.01.2020 kam es zu einem weiteren Motorradunfall des Klägers in Thailand, bei dem der Kläger erneut mit dem Motorrad stürzte und sich eine Re-Luxation der linken Schulter mit nachfolgend weiter verstärkten Funktionsbeeinträchtigungen zuzog. Auch dieses Ereignis macht der Kläger als Arbeitsunfall geltend (Az. A 7 200 18 164 X 73 ).

Die Beklagte bat den Kläger um nähere Erläuterungen zu der Angabe, er habe am Unfalltag eine „Probefahrt“ vorgenommen. Der Kläger teilte hierzu am 04.01.2021 mit, er habe am nächsten Tag einen Schüler mit speziellen Problemen bei Serpentinen gehabt und sei deswegen auf der Suche nach der passenden Strecke für die Schulung gewesen.

Mit Schreiben vom 11.01.2021 hörte die Beklagte daraufhin den Kläger zu ihrer Absicht an, mittels Rückforderungsbescheid zu Unrecht übernommene Kosten der Heilbehandlung in Höhe von 3.138,26 € von dem Kläger zurückzufordern. Aufgrund der vorliegenden Unterlagen handele es sich bei dem Ereignis vom 11.04.2019 nicht um einen Arbeitsunfall. Zum Zeitpunkt des Ereignisses habe der Kläger eine unversicherte Vorbereitungshandlung ohne direkten Zusammenhang mit seiner Tätigkeit ausgeübt. Ein Bescheid hierzu erfolge gesondert.

Der Kläger entgegnete mit Schreiben vom 18.01.2021, dass er sein Fahrtraining nur ordentlich durchführen könne, wenn er perfekte Orts- und Straßenkenntnisse habe. Dazu müsse er zwingend „immer wieder mal alleine fahren“. Umso wichtiger sei dies am Anfang der Saison, da sich über den Winter Straßen oft gravierend verändern würden. Aus diesem Grund habe seine Fahrt am 11.04.2019 einen Zusammenhang mit seiner Arbeit gehabt. Er fahre ca. 70.000 km im Jahr und tue dies sicher nicht, wenn er mal frei habe. Zudem könn...

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