Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. Unfallkausalität. Schlagen nach einem anderen Verkehrsteilnehmer. Kontrollverlust über das Fahrrad. kein "normales" verkehrswidriges Verhalten
Leitsatz (amtlich)
1. Die Wegeunfallversicherung schützt nicht gegen Gefahren, die sich erst und allein aus dem Schlagen nach einem anderen Verkehrsteilnehmer ergeben (hier: Schlag eines Fahrradfahrers nach einem anderen, vorbeifahrenden Fahrradfahrer). Derartige Gefahren werden vom Schutzzweck der Wegeunfallversicherung nicht erfasst.
2. Bei einem Schlag nach einem anderen Verkehrsteilnehmer als Ausdruck aggressiven körperlichen Verhaltens handelt es sich nicht um ein "normales" verkehrswidriges Verhalten.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 24.06.2014 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung eines Arbeitsunfalls vom 25.05.2012 in der Wegeunfallversicherung streitig.
Der 1968 geborene Kläger, wohnhaft in der S. Str. … in W., ist seit August 2011 als technischer Einkäufer bei der Firma Dr. F., D. Straße, F. versicherungspflichtig beschäftigt. Am 25.05.2012, dem Tag des Fahrradunfalls, befuhr der Kläger nach Verlassen seiner Wohnung mit seinem Rennrad die Gemeindestraße zwischen W. und S. in Richtung W., um zu seiner Arbeitsstätte in F. zu gelangen. Es handelte sich um einen (am Ort der Unfallstelle) gerade verlaufenden asphaltierten Feldweg mit einer Fahrbahnbreite von 3,1 m, der insbesondere von Schülern genutzt wird, die mit dem Fahrrad in ihre Schule nach W. gelangen wollen. Gegen 7.04 Uhr verunfallte der Kläger mit seinem Rennrad auf dieser Gemeindestraße, als er im Vorbeifahren an einer Schülergruppe von drei Kindern, die ebenfalls die Gemeindestraße mit dem Fahrrad befuhren, stürzte und sich dabei so starke Verletzungen zuzog, dass er mit dem Rettungshubschrauber ins Klinikum Stuttgart geflogen werden musste. Dort wurde eine Fraktur der Klavikula, eine Fraktur des Orbitabodens mit Orbitahämatom und Läsion des Nervus opticus (Sehnerv) rechts, eine Fraktur des Jochbeins und des Oberkiefers rechts, eine Rippenserienfraktur 2 bis 8 rechts, ein traumatischer Pneumothorax, eine traumatische subarchnoidale Blutung, eine traumatische subdurale Blutung, eine Contusio cerebri, eine traumatisches Hirnödem, eine Lungenkontusion und eine Beckenprellung rechts diagnostiziert. Am 05.06.2012 wurde die Fraktur der Klavikula operativ behandelt (offene Reposition). Auf Grund der Schädigung des rechten Sehnervs ist der Kläger seit dem genannten Unfall auf dem rechten Auge erblindet.
Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen den Kläger (wegen versuchter Körperverletzung) gab der den Unfall aufnehmende Polizeioberkommissar (POK) H. in seinem Abschlussbericht an, der Kläger sei an der Unfallstelle liegend ohne Bewusstsein angetroffen und von der Besatzung eines Rettungswagens erstversorgt worden. Es seien der Zeuge Dr. W. sowie der geschädigte Schüler N. W. vernommen worden. Die beiden anderen Schüler, M. S. sowie M. K., seien befragt worden, eine Niederschrift sei aber nicht gefertigt worden. Laut dem Protokoll der Zeugenvernehmung des Dr. W. vom 25.05.2012 gab dieser an, in seine Richtung sei ein Radfahrer den Kindern entgegen gekommen. Kurz davor habe er “Achtung„ geschrien und im Vorbeifahren nach einem Kind geschlagen, obwohl er genug Platz gehabt habe. In seiner Vernehmung vom 29.05.2012 bestätigte er dies nochmals und gab weiter an, er sei zum Unfallzeitpunkt von W. kommend Richtung S. gejoggt. Ihm seien auf dem Weg viele Kinder auf dem Fahrrad entgegen gekommen. Die drei Jungs seien nach dem Ruf “Achtung„ zusammengerückt, sodass man hätte vorbeikommen können. Er habe dann die linke Hand des Klägers gesehen, wie dieser sie hoch gehoben habe, als ob er nach einem Kind habe schlagen wollen. Dann sei er aber auch schon vom Fahrrad gestürzt. Für ihn habe es so ausgesehen, als ob der Kläger mit der Faust ausgeholt habe, um den Jungen zu schlagen. Der geschädigte N. W., geboren 1998, gab bei seiner Befragung am 30.05.2012 gegenüber POK H. an, sie hätten dem Kläger Platz gemacht, nachdem dieser “Achtung„ geschrien habe. Dann habe er einen Schlag auf dem Oberarm gespürt. Der Kläger habe ihm auf den Arm geschlagen. Dann sei dieser hingefallen. Der Kläger selbst gab im Rahmen seiner Beschuldigtenvernehmung am 13.06.2012 an, er könne sich an den Unfall nicht konkret erinnern. Er gehe davon aus, dass er - als er an den Kindern habe vorbeifahren wollen - von links einen Schatten gesehen und reflexartig die Hand gehoben habe. Er sei vor ca. einem Jahr, im Juni 2011, auf der gleichen Strecke unverschuldet mit einem entgegenkommenden Radfahrer zusammengestoßen. Daher erkläre er sich auch seine reflexartige Handlung. Er könne sich nicht daran erinnern, dass er den Jungen habe schlagen wollen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart stellte das Ermittlungsverfahr...