Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. hochgradige Sehbehinderung. schwere spezifische Leistungsbehinderung. übliche Bedingungen des Arbeitsmarktes. Tätigkeit auf einem spezifisch (seh)behindertengerecht ausgestatteten Arbeitsplatz
Leitsatz (amtlich)
1. Eine hochgradige Sehbehinderung stellt eine schwere spezifische Leistungsbehinderung dar, die die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erfordert.
2. Eine Tätigkeit auf einem spezifisch (seh)behindertengerecht ausgestatteten Arbeitsplatz stellt keine Tätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes dar.
3. Solange eine solche Tätigkeit ausgeübt wird und ausgeübt werden kann, besteht (gleichwohl) keine Erwerbsunfähigkeit. Ist eine solche Arbeitsmöglichkeit konkret nicht oder nicht mehr im bisherigen Umfang vorhanden, tritt insoweit Erwerbsminderung ein (im Anschluss an BSG vom 24.4.1996 - 5 RJ 56/95 = BSGE 78, 163 = SozR 3-2600 § 44 Nr 6, juris RdNr 20).
Orientierungssatz
Zum Leitsatz 1 vgl LSG München vom 6.4.2022 - L 19 R 337/18 = juris RdNr 116, LSG Chemnitz vom 14.8.2017 - L 5 R 336/16 = juris RdNr 19 sowie LSG Stuttgart vom 28.6.2012 - L 13 R 1810/11 = juris RdNr 19 und vom 13.6.2006 - L 11 R 5778/04.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 13. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.
Die 1992 geborene Klägerin leidet unter einer hereditären Netzhautdystrophie (sog. Stargardt Erkrankung), die erstmals im Jahr 2009 als Verdachtsdiagnose gestellt und durch eine genetische Untersuchung im November 2017 bestätigt wurde. Aufgrund dieser Erkrankung ist die Sehschärfe der Klägerin zwischenzeitlich hochgradig eingeschränkt (im September 2014 Visus rechtes wie linkes Auge 0,05; im Mai 2022 rechtes Auge Visus 0,04, linkes Auge Visus 0,06). Seit dem 24.02.2015 ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt und sind die Merkzeichen G, H und RF zuerkannt.
Nach dem Abitur im Juni 2011 absolvierte die Klägerin in der Zeit vom 01.09.2011 bis zum 28.02.2014 erfolgreich eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten bei der Gemeinde N1. Das Beschäftigungsverhältnis endete Ende August 2014. Ab September 2014 bis April 2015 bezog die Klägerin Arbeitslosengeld bzw. zeitweise Krankengeld. Am 01.05.2015 nahm sie eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung als Verwaltungsfachangestellte in Vollzeit beim Landratsamt des Landkreises H1 als Sachbearbeiterin im Sozialamt auf. Ab dem 23.05.2016 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Sie bezog Krankengeld vom 05.07.2016 bis zum 11.05.2017. Wegen der Einzelheiten der zurückgelegten Versicherungszeiten wird auf den Versicherungsverlauf vom 29.08.2019 (BI. 20 SG-Akte) verwiesen.
In der Zeit vom 06.12.2016 bis 31.01.2017 fand unter den Diagnosen mittelgradige depressive Episode, Zwangsstörung mit vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale), sonstige infektiöse Otitis externa und hereditäre Netzhautdystrophie eine stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der S1-Klinik R1 statt. Ausweislich des Abschlussberichts der Klinik vom 01.02.2017 habe die Klägerin in Vollzeit an einem für ihre Sehbehinderung ungeeigneten Arbeitsplatz in einem Umfeld, welches kein Verständnis für ihre behinderungsbedingt verminderte Leistungsfähigkeit aufgebracht habe, gearbeitet. Dies habe durch die ständige massive Überlastung zu einer Erschöpfung geführt, die sich in einer ängstlich gefärbten Depression und körperlich wahrgenommenen Konflikten dargestellt habe. Es hätten sich sekundär Kontroll- und Ordnungszwänge eingestellt, als Versuch einer Kompensation ihrer inneren Zerrissenheit. Die Klägerin erhielt eine intensive sozialtherapeutische Therapie. Wesentlicher Gegenstand waren insbesondere die Bewältigung des Schicksals ihrer Erblindung und die diesbezüglich fehlgesteuerte Erwartungs- und Leistungshaltung an sich selbst, welche letztlich zu einer mittelgradigen depressiven Episode geführt hätten. Als Behandlungsergebnis wurden eine Remission der Depression, komplettes Sistieren der Zwangshandlungen, gute Stärkung des Selbstwertgefühls und beginnende Krankheitsakzeptanz bezüglich der starken Visusminderung aufgeführt und als Weiterbehandlung eine Fortsetzung ambulanter Psychotherapie sowie das Aufsuchen einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Sehbehinderung empfohlen. Aufgrund der noch eingeschränkten Krankheitsakzeptanz wurde eine stufenweise Wiedereingliederung empfohlen. Die Entlassung erfolgte zunächst als arbeitsunfähig.
Nach Durchführung einer stufenweisen Wiedereingliederung auf einem anderen Arbeitsplatz beim Landratsamt H1 (Straßen- und Verkehrsamt) ab März 2017 nahm die Klägerin ab dem 12.05.2017 ihre reguläre Arbeitstätigkeit wieder auf, dies jedoch nach einer Änderung ihres Arbeitsvertrages im Umfang auf 50 Prozent reduzi...