Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegeversicherung. Abruf von Pflegeeinsätzen bei Bezug von Pflegegeld ist zwingend. Verfassungsmäßigkeit des § 37 Abs 3 SGB 11
Orientierungssatz
1. Die gesetzliche Verpflichtung zum Abruf der Pflegeeinsätze nach § 37 Abs 3 SGB 11 ist zwingend. Ausnahmen hiervon sind nicht vorgesehen (vgl LSG Essen vom 19.12.1996 - L 16 P 7/96 = ErsK 1997, 110).
2. § 37 Abs 3 SGB 11 verstößt nicht gegen Art 3 Abs 1 und 3 S 2 GG.
3. Durch die Notwendigkeit, einen Pflegepflichteinsatz alle halbe Jahre abzurufen, wird das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13 GG) nicht verletzt.
Nachgehend
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Kürzung des Pflegegeldes entsprechend der Pflegestufe I gemäß § 37 Abs. 3 Satz 7 des Elften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) für die Monate August 1999 bis 26. Januar 2000 um 25 vom Hundert (v.H.) sowie die Verpflichtung der Klägerin zur Bestellung und Durchführung eines Pflegeeinsatzes gemäß § 37 Abs. 3 SGB XI streitig.
Die ... 1957 geborene Klägerin ist geistig behindert (Morbus Down). Sie ist bei der Beklagten pflegeversichert. Aufgrund Beschlusses des Notariates E/Jagst als Vormundschaftsgericht vom 30. Juli 1996 ist der Vater der Klägerin Ludwig H (geboren 1918) zum Betreuer bestellt. Er vertritt die Klägerin im Rahmen seines Aufgabenkreises gerichtlich und außergerichtlich. Die Klägerin ist in der Werkstatt der Lebenshilfe in M tätig, die zu Fuß von der Wohnung ihrer Eltern 500 m entfernt ist. Sie wird im häuslichen Bereich von ihrer Mutter und dem Vater betreut und erhält aufgrund Bescheides der Beklagten (Geschäftsstelle E) vom 22. März 1995 Pflegegeld der Pflegestufe I ab 01. April 1995. In dem Bescheid ist darauf hingewiesen, dass das Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG) zur Sicherung der Qualität der häuslichen Pflege bei Bezug von Geldleistungen vorsieht, dass in der Pflegestufe I auf eigene Kosten mindestens einmal jährlich ein Pflegeeinsatz durch eine Vertragspflegeeinrichtung in Anspruch zu nehmen ist. Im Bescheid ist weiter darauf hingewiesen, dass die Vertragspflegeeinrichtung frei wählbar ist. Als Nachweis für die Durchführung des Pflegeeinsatzes diene die Rechnung über den professionellen Pflegeeinsatz oder eine Bestätigung der professionellen Pflegekraft. Die Klägerin verzog mit ihren Eltern zwischenzeitlich nach M, um in der Nähe einer Verwandten zu wohnen, die die Betreuung und Pflege der Klägerin bei altersbedingtem Ausfall ihrer Eltern zu übernehmen bereit ist. Bis zum Inkrafttreten des Vierten SGB XI-Änderungsgesetzes zum 01. August 1999 war dieser Pflegeeinsatz von der Klägerin zu bezahlen. Die Kosten werden ab dem zweiten Halbjahr 1999 entsprechend der gesetzlichen Änderung durch die Pflegekassen übernommen. Die Klägerin hat im Laufe des Bezuges von Pflegegeld einmal einen Pflegeeinsatz bestellt und bezahlt. Mit Schreiben vom 22. September 1998 wies die nunmehr zuständig gewordene Geschäftsstelle M der Beklagten auf die Notwendigkeit eines halbjährlichen Pflegeeinsatzes (Beratungsbesuch) hin und erläuterte die Gründe hierfür. Hierauf erwiderte der Vater der Klägerin, dass es sich bei dem Pflegeeinsatz um eine sinnlose Geldausgabe handle. Die Klägerin werde schon seit mehr als 40 Jahren von ihrer Mutter richtig gepflegt. Die früher zuständig gewesene Geschäftsstelle U habe deshalb aus gutem Grund auf Pflegeeinsätze verzichtet. Der Vater der Klägerin wandte sich weiter an den Vorstand der Beklagten, der durch die Hauptverwaltungsabteilung Qualitätsmanagement die Notwendigkeit der Pflegeeinsätze und die Gesetzeslage erläutern ließ und weiter wegen der vom Vater der Klägerin geforderten Freistellung von dem Pflegeeinsatz auf eine gegenteilige Stellungnahme der Bundesregierung verwies. Auf mögliche Nachteile bei Nichtabrufung des Pflegeeinsatzes wurde die Klägerin gleichzeitig hingewiesen. Nach weiterem Schriftverkehr bestellte die Klägerin einen Pflegeeinsatz bei der Diakoniestation M zum 10. Oktober 1998. Die umfassende Sicherstellung der Pflege durch die Eltern der Klägerin, Margarete und Ludwig H, wurde daraufhin am 12. Oktober 1998 bestätigt. Wegen des im ersten Halbjahr 1999 anstehenden nächsten Pflegeeinsatzes wandte sich die Beklagte an die Klägerin und erläuterte die Gründe für den § 37 Abs. 3 SGB XI, wogegen der Vater der Klägerin einwandte, dass ein Beratungsbesuch in seiner Wohnung wegen Art. 11 Grundgesetz (GG) verweigert werde. Im Übrigen erhalte die Klägerin in der Werkstatt für Behinderte nach Abzug eines Essensgeldes einen monatlichen Lohn von DM 77,50, so dass für den völlig sinnlosen Besuch nicht noch DM 30,00 bezahlt werden könnten. Wegen der möglichen Kürzung des Pflegegeldes drohte er Klage durch alle Instanzen an. Die Beklagte erläuterte nochmals mit Schreiben vom 01. Juli 1999 die Rechtslage und teilte die Absicht mit, das laufende Pflegegeld ab dem 01. des nächsten Monats um 25 v.H., also um DM 100,00 zu kürzen, worauf der Vater der Klägerin auf die Möglichkei...