Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Abfindung einer Unfallrente in Höhe von 20 v H der Vollrente gem § 76 Abs 1 SGB 7. Ermessensentscheidung. Berücksichtigung einer geringeren als der altersüblichen Lebenserwartung. maßgeblicher Zeitpunkt der Beurteilung: letzte mündliche Verhandlung der Tatsacheninstanz. gesundheitlicher Risikofaktor: Nikotin- und Alkoholkonsum. Adipositas. familiäre Disposition: Schlaganfall- und Herzinfarktrisiko
Leitsatz (amtlich)
1. Der Unfallversicherungsträger darf bei seiner nach § 76 Abs 1 SGB 7 zu treffenden Ermessensentscheidung über einen Abfindungsantrag eine geringere als die altersübliche Lebenserwartung nur dann berücksichtigen, wenn sie erheblich ist. Die verbliebene Lebenserwartung muss die Zeit unterschreiten, die dem für die Abfindung festgesetzten Kapitalwert nach der Verordnung über die Berechnung des Kapitalwertes bei Abfindung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung entspricht.
2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob und ggf in welchem Maße die Lebenserwartung herabgesetzt ist, ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einer Tatsacheninstanz.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 27.05.2009 und der Bescheid der Beklagten vom 26.04.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.06.2007 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten aus beiden Rechtszügen zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Strittig ist, ob die Beklagte ermessensfehlerfrei den Antrag des Klägers auf Abfindung seiner Verletztenrente abgelehnt hat.
Der 1958 geborene Kläger erlitt am 04.10.2002 bei einem Sturz eine beiderseitige Fersenbeinfraktur. Wegen der Unfallfolgen bezieht er von der Beklagten Rente auf unbestimmte Zeit in Höhe von 20 vom Hundert (v. H.) der Vollrente (Bescheid vom 18.08.2005).
Am 08.02.2007 beantragte der Kläger die Abfindung seiner Rente. Die Beklagte holte deshalb von dem Internisten Dr. R. das auf Grund einer ambulanten Untersuchung erstattete Gutachten vom 19.03.2007 ein. Dieser kam zu dem Ergebnis, als Risikofaktoren lägen vor eine Adipositas mit BMI (Body-Mass-Index) von 33,2, ein Alkoholkonsum von ca. acht bis zehn Flaschen Bier pro Woche und ein Nikotinkonsum von einer Packung Zigaretten pro Tag seit ca. 32 Jahren. In seiner Beurteilung führte er aus, die Lebenserwartung sei herabgesetzt. Allein für den Nikotin-abusus sei eine Reduktion um bis zu acht Jahren beschrieben worden. Dazu kämen deutlich erhöhte Leberwerte, die am ehesten durch den Alkoholabusus bedingt seien sowie die Adipositas. Ein exakter Zeitraum der Lebensverkürzung unter Berücksichtigung der mehreren Faktoren könne nicht angegeben werden. Er dürfte aber deutlich über die acht Jahre wegen des Nikotinabusus hinausgehen.
Mit Bescheid vom 26.04.2007 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rentenabfindung mit der Begründung ab, die Lebenserwartung des Klägers sei ausweislich des Gutachtens von Dr. R. in Folge von Nikotinabusus, Adipositas sowie pathologischer Nüchtern-Serumglucose sowie deutlich erhöhter Leberwerte herabgesetzt.
Hiergegen erhob der Kläger mit der Begründung Widerspruch, der zu leistende Abfindungsbetrag in Höhe von 55.507,46 Euro wäre bei Zahlung einer monatlichen Rente in Höhe von 330 Euro nach etwa 14 Jahren erreicht. Er wäre zu diesem Zeitpunkt 62 Jahre alt. Dieses Lebensalter werde er in jedem Fall erreichen. Im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand sei sogar davon auszugehen, dass durchaus noch eine Lebenserwartung von mindestens 40 bis 45 Jahren bestehe. Die Beklagte habe ferner nicht beachtet, dass er auch im eigenen Interesse versuche, das Rauchen vollständig einzustellen, sein Körpergewicht zu reduzieren und die Leberwerte wieder auf einen Normalwert zu bekommen. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 29.06.2007). Soweit der Kläger nach seinen Angaben versuche, das Körpergewicht zu reduzieren, die Leberwerte auf einen Normalwert zu bekommen und das Rauchen vollständig einzustellen, sei dies bisher offensichtlich nicht eingetreten.
Der Kläger erhob am 06.07.2007 Klage bei dem Sozialgericht Ulm (SG) und wiederholte seinen bisherigen Vortrag. Die Beklagte trat der Klage entgegen.
Das SG erhob Beweis durch Einholung des Gutachtens, das der Chefarzt der Medizinischen Klinik II des Klinikums H., PD Dr. Sch., am 29.06.2008 erstattete. Der Sachverständige beschrieb neben dem Zustand nach osteosynthetischer Versorgung der Fersenbeinfrakturen vom Oktober 2002 und einem Zustand nach Patellatrümmerfraktur rechts und traumatischer Hüftluxation rechts nach Motorradunfall von 1981 sowie einem Zustand nach Bizepssehnennaht bei distalem Bizepssehnenausriss links 1999 als kardiovaskuläre Risikofaktoren eine Hyperlipoproteinämie, Adipositas, Ni...