Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Höhe der Regelleistung. Einkommensberücksichtigung. Verfassungsmäßigkeit. abweichende Erbringung von Leistungen bei unabweisbarem Bedarf
Orientierungssatz
1. Die Regelungen des § 20 Abs 2 und 3 SGB 2 zur Höhe der Regelleistungen und des § 11 SGB 2 zur Berücksichtigung von Einkommen verletzen weder das Sozialstaatsprinzip nach Art 20 Abs 1 GG noch die in Art 1 Abs 1 GG garantierte Menschenwürde.
2. Kann im Einzelfall ein von den Regelleistungen umfasster unabweisbarer Bedarf dennoch nicht gedeckt werden, kommt die Gewährung eines Darlehens gemäß § 23 Abs 1 SGB 2 in Betracht. Den verfassungsrechtlichen Bedenken, die sich aus der unterschiedlichen Regelung in § 23 Abs 1 SGB 2 einerseits - und in § 28 Abs 1 S 2 SGB 12 andererseits - herleiten, könnte durch eine Modifizierung der durch § 23 Abs 1 S 3 SGB 2 eröffneten Aufrechnungsbefugnis begegnet werden.
Nachgehend
Tatbestand
Die ...1957 geborene Klägerin begehrt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).
Die Klägerin ist verheiratet. Sie lebt mit ihrem ...1943 geborenen Ehemann und der ...1984 geborenen Tochter in einer gemeinsamen Wohnung. Die Klägerin kann mindestens drei Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgehen. Ein Antrag der Klägerin auf Rente wegen volle Erwerbsminderung wurde mit Bescheid der Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg vom 29.04.2005 abgelehnt, da teilweise Erwerbsminderung (volle Erwerbsminderung) bzw. Berufsunfähigkeit nicht vorliege. Bei der Klägerin wurde mit Bescheid des Versorgungsamts Freiburg vom 18.06.2004 der Grad der Behinderung mit 40 seit dem 07.05.2003 festgestellt. Sie bezog bis 18.10.2004 Arbeitslosengeld und vom 19.10.2004 bis 31.12.2004 Arbeitslosenhilfe in Höhe von täglich 27,14 €. Seit 01.01.2005 erzielt die Klägerin keine Einkünfte. Der Ehemann der Klägerin ist Rentner. Er erhält von der Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg seit 01.07.2004 Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Seine Rente beträgt nach Abzug der Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung monatlich 928,44 €. Die Tochter der Klägerin befindet sich in der Berufsausbildung. Sie erhielt von der Agentur für Arbeit Lörrach für die Zeit vom 08.11.2004 bis 07.08.2005 Berufsausbildungsbeihilfe in Höhe von monatlich 257,00 € (Bescheid vom 15.11.2004). Weiter wurde für die Tochter Kindergeld in Höhe von monatlich 154,00 € bezahlt. Die Klägerin verfügt über zwei Sparguthaben in Höhe von 10.284,15 € zum 15.01.2004 und 767,21 € zum 15.01.2004 (Zinsen 93,52 € und 6,02 €). Sonstiges zu berücksichtigendes Vermögen ist nicht vorhanden.
Am 04.01.2005 beantragte die Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Sie legte zu den Kosten für Unterkunft und Heizung eine Mietbescheinigung vom 25.10.2004 (Gesamtmiete monatlich 290,18 €, darin enthaltenen 71,32 € für Wasserzins und Entwässerungsgebühren), den Mietvertrag mit Übergabeprotokoll vom 17.11.1995, einen Beleg für die Abfallgebühr 2004 in Höhe von 79,20 €, eine Stromrechnung vom 15.11.2004 (731,06 €; monatliche Abschlagszahlungen ab 14.01.2005 in Höhe von 82,50 €) und einen Bankbeleg über Vorauszahlungen an die "B Gas AG" L in Höhe von monatlich 57,00 € vor. Außerdem legte die Klägerin Belege wegen Versicherungen ihres Ehemannes (Rechtsschutzversicherung 168,38 € / Jahr, KFZ-Versicherungen 231,97 € / Jahr) sowie weitere Unterlagen vor.
Mit Bescheid vom 11.02.2005 lehnte die Agentur für Arbeit Lörrach den Antrag der Klägerin ab. Die Klägerin sei nicht hilfebedürftig und habe deshalb keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Dabei wurde von einem Gesamtbedarf in Höhe von 407,08 € (Grundbedarf 311,00 €, anteilige Grundmiete 72,96 €, Heizkosten 16,00 €, Nebenkosten/sonstige Kosten 7,12 €) ausgegangen. Als Gesamteinkünfte wurden 645,36 € (Kindergeld 154,00 €, sonstiges zu berücksichtigendes Einkommen des Ehemannes 491,36 €) berücksichtigt.
Hiergegen erhob die Klägerin am 22.02.2005 Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid der Widerspruchsstelle der Beklagten vom 01.03.2005 zurückgewiesen wurde. Zur Bedarfsgemeinschaft gehörten die Klägerin sowie ihr Ehegatte, nicht jedoch die volljährige Tochter. Die Kosten der Unterkunft und Heizung seien zu einem Drittel zu berücksichtigen, da die Haushaltsgemeinschaft aus drei Personen bestehe. Auf den Gesamtbedarf sei das zu berücksichtigende Einkommen anzurechnen. Aus dem Renteneinkommen des Ehemannes verbliebe ein anzurechnendes Einkommen (494,22 €). Die Klägerin selbst habe anzurechnendes Einkommen in Höhe von 124,00 € (Kindergeld 154,00 € abzüglich Versicherungspauschale 30,00 €). Das insgesamt anzurechnende Einkommen (618,22 €) übersteige den Bedarf (404,22 €). Mangels Hilfebedürftigkeit bestehe daher keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Hiergegen erhob ...