Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. fehlende Wegefähigkeit aufgrund einer chronischen Darmerkrankung
Leitsatz (amtlich)
1. Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können. Hat der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht angeboten, wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege absolvieren muss. Eine (volle) Erwerbsminderung setzt grundsätzlich voraus, dass der Versicherte nicht vier Mal am Tag Wegstrecken von über 500 Meter mit zumutbarem Zeitaufwand (also jeweils innerhalb von 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und ferner zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (zB Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (vgl BSG vom 12.12.2011 - B 13 R 79/11 R = BSGE 110, 1 = SozR 4-2600 § 43 Nr 17, Rdnr 20).
2. Leidet der Versicherte wegen einer chronischen Darmerkrankung unter häufigen und unkontrollierbaren Darmentleerungen, die es erforderlich machen, sich stets in der Nähe einer Toilette aufzuhalten, so kann er nicht auf die Verwendung öffentlicher Verkehrsmittel (Busse, Straßenbahnen, U-Bahn im öffentlichen Personennahverkehr) verwiesen werden.
Normenkette
SGB VI § 43 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Sätze 1, 3, § 1 S. 1 Nr. 2, § 99 Abs. 1 S. 2, § 101 Abs. 1, § 102 Abs. 2 Sätze 1-5; SGG § 193 Abs. 1
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 1. Oktober 2019 abgeändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 8. September 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2017 verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. Juni 2017 bis zum 31. Dezember 2021 zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.
Die 1970 geborene Klägerin zog 1974 in die Bundesrepublik Deutschland zu. Zuletzt stand sie in der Zeit vom 1. Juni 2010 bis zum 30. März 2014 in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis in der Altenpflege. Anschließend bezog sie bis zum 13. Dezember 2016 Arbeitslosengeld bzw. Krankengeld. Seit November 2019 übt die Klägerin eine geringfügige nicht versicherungspflichtige Beschäftigung im Umfang von bis zu sechs Stunden in der Woche im Bereich der häuslichen Altenpflege aus. Um die zu pflegende Person aufzusuchen, wird die Klägerin von ihrem Ehemann oder einer Freundin mit dem Auto gefahren. Die Klägerin ist nicht im Besitz eines Führerscheins.
Im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens betreffend Leistungen der medizinischen Rehabilitation erstattete die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. E. unter dem 2. April 2015 ein Gutachten mit der Diagnose Z.n. schwerer depressiver Episode mit psychotischen Symptomen, derzeit leicht bis mittelgradig. In der Zeit vom 5. Mai 2015 bis zum 7. Mai 2015 absolvierte die Klägerin eine stationäre Maßnahme der medizinischen Rehabilitation in der Klinik S. B. N. (Entlassbericht des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie K. vom 12. Mai 2015; Diagnosen: Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen, arterieller Hypertonus, Diabetes mellitus Typ II, Crohn-Krankheit). Die Rehabilitationsmaßnahme wurde vorzeitig auf ärztliche Veranlassung wegen aufgetretener psychotischer Symptome abgebrochen.
In der Zeit vom 25. Mai 2016 bis zum 15. Juni 2016 befand sich die Klägerin in der Rehaklinik O. in B. M. wegen der Diagnosen Morbus Crohn, aktuell akuter Schub, rezidivierende depressive Störung mit paranoidal-halluzinatorischer Psychose, Diabetes mellitus Typ II, arterielle Hypertonie und chronisches Schmerzsyndrom in stationärer Behandlung. Wegen eines weiteren Schubes der Morbus-Crohn-Erkrankung erfolgte in der Zeit vom 29. September 2016 bis zum 10. Oktober 2016 eine stationäre Behandlung im S. Klinikum P. (Entlassbericht des Prof. Dr. W. vom 11. Oktober 2016).
Am 23. Juni 2017 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung. Sie begründete ihren Rentenantrag mit Depressionen, Morbus Crohn, Diabetes, hohem Blutdruck und Schmerzen am ganzen Körper. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung der Klägerin. Die Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Fachärztin für Innere Medizin Dr. S. gelangte in ihrem Gutachten vom 4. September 2017 - unter Berücksichtigung der Diagnosen: Leichtgradige depressive Episode ohne wese...