Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Streitgegenstand. Einbeziehung neuer Verwaltungsakte nach Klageerhebung. Überprüfungsbescheid. Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung. Laktose- bzw Fruktoseintoleranz. Mehrbedarf wegen unabweisbarem laufenden besonderen Bedarf. Kosten für Hygiene- und Pflegeprodukte
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Überprüfungsbescheid nach § 44 Abs 1 SGB X wird nicht nach § 96 SGG Gegenstand des den Ausgangsbescheid betreffenden Verfahrens.
2. Laktose- bzw Fruktoseintoleranz begründen grundsätzlich keinen Mehrbedarf iS § 21 Abs 5 SGB II.
3. Kosten für Gesundheitspflege für medizinisch notwendige, aber nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse abgedeckte Präparate begründen grundsätzlich keinen unabweisbaren Mehrbedarf nach § 21 Abs 6 SGB II. Der Anspruch auf Existenzsicherung wird auch insoweit in erster Linie durch die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 21. August 2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 01.11.2017 bis zum 30.04.2018 streitig.
Der bereits vor dem hier streitigen Bewilligungszeitraum langjährig bei dem Beklagten im Leistungsbezug stehende Kläger begehrte bereits in der Vergangenheit Mehrbedarfe wegen kostenaufwändiger Ernährung sowie wegen eines besonderen Bedarfs für Pflege- und Hygienemittel. In diesem Zusammenhang sind in Bezug auf den Kläger diverse ärztliche Unterlagen aktenkundig. So beschrieben die F1, S1 und M1 in ihrer Bescheinigung vom 29.09.2005 eine ausgeprägte Laktoseintoleranz. H1 vom Landratsamt - Gesundheit und Versorgung -C1 berichtete in der Empfehlung vom 04.03.2010 von einem fachärztlich bestätigten Waschzwang. K1, Ärztlicher Direktor der F2 Klinik D1, führte in der in dem zwischen den Beteiligten vor dem Sozialgericht Karlsruhe (SG) geführten Verfahren S 4 AS 5063/11 erstellten sachverständigen Zeugenauskunft vom 12.09.2012 die Diagnosen Zwangsgedanken und -handlungen gemischt, rezidivierende depressive Störung, generalisierte Angststörung und narzisstische Persönlichkeitsstruktur auf. S2 führte in ihrem Befundbericht vom 23.04.2014 aus, der humangenetische Befund spreche für das Vorliegen einer genetischen Prädisposition zur Laktoseintoleranz. K2 und B1 erläuterten in ihrer Bescheinigung vom 26.05.2014, mittels einer Blutanalyse sei ein primärer Laktasemangel festgestellt worden, wodurch es zu einer Laktoseintoleranz komme. M2 diagnostizierte in seinen Befundberichten vom 05.06.2014 und 12.11.2015 Zwangsgedanken und -handlungen gemischt sowie eine posttraumatische Belastungsstörung. Schließlich führte S3 in ihrem für das SG Karlsruhe in dem zwischen den Beteiligten geführten Verfahren S 4 AS 652/14 erstellten Gutachten vom 30.12.2014 aus, der Kläger leide nach der Aktenlage an einem durch eine Blutanalyse festgestellten primären Laktasemangel. Aufgrund der Aktenlage sei davon auszugehen, dass ein chronischer Laktasemangel vorliege, der lebenslang mit einer Unverträglichkeit von milchzuckerhaltigen Lebensmitteln einhergehe. In den Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften werde allerdings der H2-Atemgastest zur Diagnose der Laktoseintoleranz empfohlen. Verständlich sei, dass der Kläger die möglicherweise unangenehmen Wirkungen dieses Tests ablehne. Zusammenfassend sei es aus gesundheitlichen Gründen sinnvoll, die zusätzlichen Kosten für eine laktosefreie Ernährung zu gewähren. Eine Kost mit normalen Milchprodukten könne bei Laktoseintoleranz langfristig zu gastrointestinalen Beschwerden führen. Das komplette Auslassen von Milch und Joghurt erhöhe außerdem das Osteoporoserisiko, da Milchprodukte wichtige Kalziumlieferanten seien. Der Preisvergleich zwischen normalen Milchprodukten und laktosefreien Ersatzprodukten sei auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstatistik vorgenommen worden, wobei auch die Teuerungsrate berücksichtigt worden sei. Wenn eine Kost nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung verzehrt werde, lägen die zusätzlichen Kosten bei rund 3,30 € monatlich, wenn die üblichen Milchprodukte aus dem unteren Preissegment durch laktosefreie Milchprodukte aus dem Discounter ersetzt würden und zusätzlich ein Viertel der täglichen Calciumaufnahme durch Tabletten erfolge.
Zudem ist das von dem Beklagten bei W1 eingeholte Gutachten vom 16.02.2017 aktenkundig. Der Kläger gab während der gutachterlichen Untersuchung an, sein Tagesablauf sei von Zwangshandlungen des ausgiebigen Waschens und Reinigens, vor allem nach dem Toilettengang, dem Essen und bei Stress, bestimmt. Anschließend müsse er sich um die Pflege der Haut kümmern, was ebenfalls Zeit beanspruche. Er benötige verschiedenste Seifen, Duschbäder, Waschmittel, desinfizierende Substanzen und rückfette...