Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Hinterbliebenenrente. Arbeitsunfall. Suizid. Folge eines akuten psychischen Traumas mit Gesundheitserstschaden. Kausalität. innerhalb einer Arbeitsschicht. Beweisschwierigkeit. hohe Arbeitsbelastung eines Gruppenleiters
Leitsatz (amtlich)
1. Die Anerkennung eines Suizids als Arbeitsunfall erfordert einen Gesundheitserstschaden, der rechtlich wesentlich innerhalb einer Arbeitsschicht verursacht worden ist.
2. Zweifel am Nachweis des Gesundheitserstschadens und an der wesentlichen Verursachung innerhalb einer Arbeitsschicht wirken sich zu Lasten der Hinterbliebenen aus.
Orientierungssatz
Bei der Frage, ob die Folgen eines Arbeitsunfalls kausal für die Selbsttötung im Sinne einer wesentlichen Mitbedingung waren, ist nicht auf die Reaktionsweise eines "normalen" Versicherten abzustellen, sondern darauf, wie der Betroffene individuell auf die Folgen des Arbeitsunfalls reagiert hat. Bei der Kausalitätsfrage ist zu prüfen, welche Auswirkung das Krankheitsgeschehen gerade auf die in Betracht kommende Einzelpersönlichkeit mit ihrer jeweils gegebenen Struktureigenheit im körperlich-seelischen Bereich gehabt hat.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 06.07.2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung des Suizids des bei der Beklagten versicherten Ehemanns der Klägerin (Versicherter) 2021 als Arbeitsunfall und die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen im Streit.
Der 1969 geborene Versicherte war als Softwareentwickler und Gruppenleiter bei der G1 in S1 beschäftigt. Er war Gruppenleiter eines Teams von Softwareentwicklern und arbeitete aufgrund erheblicher Arbeitsbelastung bis zu 12 Stunden am Tag, zuletzt ausschließlich im Home-Office. Am Morgen des 15.08.2021 (Sonntag) stürzte der Versicherte ohne Fremdeinwirkung aus dem Dachfenster im dritten Stock seines Wohnhauses und verstarb an den Folgen des Aufpralls. Der von einem Nachbarn herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod des Versicherten feststellen. Eine andere Todesursache als ein Suizid ist nicht ersichtlich.
Gegenüber der Polizei schilderte die Klägerin besondere Belastungen des Versicherten in seinem Beruf. Im April habe es eine Umstrukturierung gegeben, bei der viele Mitarbeiter gekündigt hätten. Der Verstorbene habe sich für alles verantwortlich gefühlt, sei oft ausgenutzt worden, und habe es allen recht machen wollen. Am 12.08.2021 (Donnerstag) habe er eine E-Mail erhalten, in welcher seine Leistungen in Frage gestellt worden seien; diese E-Mail sei auch an seine Vorgesetzten gesandt worden. Sein unmittelbarer Vorgesetzter habe ein klärendes Gespräch abgelehnt und lediglich auf ein bereits anstehendes Treffen am folgenden Mittwoch verwiesen. Am 13.08.2021 (Freitag) habe sich der Versicherte krankgemeldet, jedoch von seiner Hausarztpraxis erst einen Termin für Montag bekommen. Daraufhin habe der Versicherte eine Panikreaktion gezeigt und den Verdacht geäußert, dass die Praxishilfe ihn ausfragen wolle und die Ärztin ihn verfolge. Am 14.08.2021 (Samstag) sei morgens eine E-Mail eines Kollegen eingetroffen, in welcher ein Softwareangriff gemeldet worden sei. Am Vormittag habe der Versicherte dann gearbeitet, am Nachmittag habe man eine Fahrradtour gemacht und habe abends gemeinsam ferngesehen. Gegen 01:00 Uhr sei man schlafen gegangen. Sie habe ihren Mann am Sonntagmorgen noch hin und her laufen hören; die Flipflops ihres Mannes hätten Geräusche gemacht, und er habe mehrere Jalousien geöffnet. Ihr Mann habe sich große Sorgen gemacht, persönlich für die aufgetretenen Probleme verantwortlich gemacht zu werden. Auch gegenüber der Notärztin und einem weiteren Polizisten wies die Klägerin auf die Belastung des Versicherten an seinem Arbeitsplatz hin.
Nach dem Ergebnis der kriminalpolizeilichen Ermittlungen wurde davon ausgegangen, dass der Versicherte - möglicherweise im Rahmen einer Kurzschlussreaktion - aus dem Dachfenster gestiegen ist, um Suizid zu begehen. Anhaltspunkte für das Verschulden einer anderen Person oder einen Defekt am Dachfenster ergaben sich nicht. Auch die Staatsanwaltschaft S1 nahm abschließend eine Selbsttötung durch einen Sprung aus dem Dachgeschoss an. Der Suizid sei wahrscheinlich am Sonntag um 07:53 Uhr erfolgt. Eine Abschiedsnachricht hat der Versicherte nicht hinterlassen.
Der Arbeitgeber des Versicherten teilte der Beklagten mit, dass am 13.08.2021 Systemhinweise auf auffällige Software-Aktivitäten eingegangen seien. Der Versicherte habe am 14.08.2021 (Samstag) eine E-Mail erhalten, in der er eine Entwarnung bezüglich des am Vorabend eingegangenen Systemhinweises gegeben habe. Der Versicherte sei letztmalig am Samstag, den 14.08.2021, von 11:03 bis 13:36 Uhr im B1-Netzwerk eingeloggt gewesen. Im Verlauf des Samstagabends, in der Nacht oder am Sonntagmorgen habe es keine der Firma bekannte Arbeitstätigkeit gegeben.
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