Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. unzulässige und unbegründete Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer
Leitsatz (amtlich)
1. Eine allgemein gültige Zeitvorgabe, wie lange ein (sozialgerichtliches) Verfahren höchstens dauern darf, um nicht als unangemessen lang zu gelten, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Auch sonst ist die generelle Festlegung, ab wann ein Verfahren unangemessen lange dauert - insbesondere als feste Jahresgrenze -, angesichts der Unterschiedlichkeit der Verfahren nicht möglich (vgl BVerfG vom 20.7.2000 - 1 BvR 352/00 = NJW 2001, 214).
2. Ob der Anspruch eines Verfahrensbeteiligten auf Entscheidung seines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit verletzt wurde, ist im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art 6 Abs 1 EMRK sowie des Bundesverfassungsgerichts zu Art 19 Abs 4, 20 Abs 3 GG zu beurteilen (vgl auch BT-Drs 17/3802, 1, 15). Als Maßstab nennt § 198 Abs 1 S 2 GVG die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (vgl insoweit auch EGMR vom 24.6.2010 - 21423/07, Rdnr 32; Urteil vom 8.6.2006 - 75529/01 Rdnr 128; Urteil vom 21.4.2011 - 41599/09 Rdnr 42; BVerfG vom 27.9.2011 - 1 BvR 232/11 - Rdnr 16 in juris).
3. Wer den Umstand, dass das Gericht ein eine höchstrichterlich bereits mehrfach geklärte Rechtsfrage betreffendes Verfahren zu Gunsten anderer vordringlicher Verfahren zurück stellte, zum Anlass nimmt, wegen überlanger Verfahrensdauer einen Entschädigungsanspruch geltend zu machen, missbraucht das Klagerecht auf Entschädigung (vgl EGMR vom 19.1.2010 - 22051/07, hinsichtlich eines Klageverfahrens über einen Anspruch über lediglich 7,99 €).
4. Eine besondere Bedeutung für den Kläger kann dann nicht angenommen werden, wenn diese jetzt erstmals im Verfahren auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer behauptete besondere Bedeutung (hier die angeblich beabsichtigte verfassungsrechtliche Prüfung durch das BVerfG) an keiner Stelle im Ausgangsverfahren geltend gemacht wurde und auch nicht ansatzweise ein erkennbares wirkliches Interesse an der Klärung der Rechtsfrage tatsächlich bestanden hat. Dies erst recht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits mehrfach höchstrichterlich geklärt ist.
5. Wenn eine gesetzliche Neuregelung ständige Rechtsprechung kodifiziert, werden dadurch nicht per se schwierige Rechtsfragen aufgeworfen. Die gesetzliche Regelung in § 198 GVG nimmt gerade die schon langjährige ständige Rechtsprechung des EGMR wie auch des BVerfG und des BSG zu den Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch und den Prüfkriterien zur Frage, wann ein Verfahren unangemessen lange gedauert hat, auf. Dh mit anderen Worten, bei der Prüfung zur Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer sind gerade keine neuen schwierigen Rechtsfragen zu lösen, sondern ist vielmehr eine ständige und gefestigte Rechtsprechung anzuwenden.
Orientierungssatz
1. Das Gerichtsverfahren iS der §§ 198ff GVG beginnt mit der Einleitung, also der Klageerhebung, Antragstellung oder einem von Amts wegen veranlassten Tätigwerden (BT-Drs 17/3802, 22 zu § 198 Abs 6 Nr 1), wobei Verfahren über vorläufigen Rechtsschutz und die Gewährung von Prozesskostenhilfe mit erfasst werden (§ 198 Abs 6 Nr 1). Abgeschlossen ist das Gerichtsverfahren mit der (formellen) Rechtskraft, also wenn kein weiterer Rechtsbehelf mehr zur Verfügung steht. Maßgeblich ist daher nicht die einzelne Instanz (vgl BSG vom 2.10.2008 - B 9 VH 1/07 R = SozR 4-3100 § 60 Nr 4; EGMR vom 10.2.2009 - 30209/05, juris).
2. Es können nur solche abgeschlossenen Altverfahren (noch) zum Gegenstand einer statthaften Entschädigungsklage (hier) vor dem Landessozialgericht gemacht werden, deren Dauer bereits in zulässiger Weise mit einer Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beanstandet worden sind. Die Übergangsregelung greift hingegen nicht bereits dann ein, wenn ein Verfahren vor dem EGMR zwar formal noch anhängig ist, mit einem Erfolg der Beschwerde aber wegen offensichtlicher Verfristung nach Art 35 Abs 1 EMRK nicht gerechnet werden kann.
Tenor
Die Klagen werden abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 18.500,00 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Kläger begehren die Zahlung einer Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer.
Die geborene Klägerin Ziff. 1 ist die leibliche Mutter der zwischen 1989 und 1996 geborenen Kläger Ziff. 2 bis Ziff. 5. Die Kläger wohnten zum streitgegenständlichen Zeitpunkt (2007) in einer gemeinsamen Wohnung (103,7 m²) in Freiburg und bezogen laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) von der ARGE Freiburg.
Mit Schreiben vom 29. August 2007 hatte der SGB II-Leistungsträger, die ARGE Freiburg (jetzt Jobcenter Freiburg), die Kläger aufgefordert, ihre Kosten der Unterkunft zu senken, da diese unangemessen hoch seien (die Kaltmiete betrug zunächst 700,0...