Entscheidungsstichwort (Thema)
Elterngeld. Einbehaltung des Elterngelds zwecks Erfüllung eines Erstattungsanspruchs des Grundsicherungsträgers. Anrechnung des Elterngelds auf Leistungen der Grundsicherung. Verfassungsmäßigkeit. Freibetrag nach § 10 Abs 5 S 2 BEEG nur bei vorheriger Erwerbstätigkeit
Leitsatz (amtlich)
Wendet sich eine Klägerin allein dagegen, dass die für die Bewilligung von Elterngeld zuständige Stelle (Beklagte) vom Elterngeldanspruch einen bestimmten Betrag abgesetzt hat, um damit einen Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers (Beigeladener) wegen zeitgleich gewährter Grundsicherungsleistungen zu befriedigen, muss die Beklagte bereits im Verwaltungsverfahren prüfen, in welchem Umfang die für einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X erforderliche zeitliche Kongruenz der Leistung sowie die Personenidentität der Leistungsberechtigten der nachrangigen mit der vorrangigen Sozialleistung vorliegt (vgl BSG vom 12.5.2011 - B 11 AL 24/10 R = SozR 4-1300 § 107 Nr 4).
Orientierungssatz
1. Die Rechtsfrage, ob die Anrechnung von zugeflossenem Elterngeld auf die Leistungen nach dem SGB 2 verfassungsgemäß ist, erscheint im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl BVerfG vom 1.3.2010 - 1 BvR 3163/09 = SozR 4-4200 § 11 Nr 32 zum Kindergeld, BVerfG vom 7.7.2010 - 1 BvR 2556/09 = SozR 4-4200 § 11 Nr 33 zum BAföG) als geklärt im Sinne einer Verfassungsmäßigkeit der Anrechnung (Anschluss an LSG Berlin-Potsdam vom 9.4.2015 - L 29 AS 3139/12).
2. Wer Leistungen nach dem SGB 2 bezieht und vor der Geburt des Kindes nicht erwerbstätig war, kann nicht den Freibetrag in Höhe von 300 Euro nach § 10 Abs 5 S 2 BEEG geltend machen.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 12.03.2015 sowie der Bescheid der Beklagten vom 25.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.10.2012 abgeändert und die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum vom 11.05.2012 bis 10.06.2012 weiteres Elterngeld in Höhe von 156,00 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
Von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Klage- und Berufungsverfahren trägt die Beklagte ein Fünftel.
Tatbestand
Die Klägerin beansprucht die Auszahlung von Elterngeld, welches ihr das beklagte Land bewilligt, aber aufgrund eines vom beigeladenen Jobcenter geltend gemachten Erstattungsanspruches an den Beigeladenen gezahlt hat.
Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie ist im Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis. Am 11.04.2012 kam ihre Tochter R. (R) zur Welt, mit der sie zusammen mit ihrem Ehemann und dem am 21.11.2007 geborenen Kind C. (C) in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Die Klägerin erzielte weder vor noch nach der Geburt von R Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit. Ab dem 01.05.2012 bezog sie Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Beigeladenen.
Am 30.04.2012 beantragte die Klägerin Elterngeld bei der Beklagten für den 1. bis. 12 Lebensmonat von R unabhängig von ihrem Einkommen nur in Höhe des Mindestbetrages von 300 €. Die Klägerin gab an, sie erziele im Bezugszeitraum kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Das Jobcenter R.-M. machte mit Schreiben vom 30.05.2012, eingegangen bei der Beklagten am 14.06.2012, einen Erstattungsanspruch gemäß §§ 102 ff SGB X geltend. Mit Bescheid vom 25.06.2012 bewilligte die Beklagte der Klägerin Elterngeld für R vom 11.04.2012 bis 10.04.2013 in Höhe von monatlich 300 €. Im Bescheid wurde ausgeführt, dass aufgrund eines möglichen Erstattungsanspruchs eines Sozialleistungsträgers das Elterngeld solange einbehalten werde, bis der zuständige Leistungsträger die Höhe seines Anspruchs mitteile. Ein Elterngeldfreibetrag im Sinne des § 10 Abs 5 Satz 2 BEEG stehe der Klägerin nicht zu.
Am 06.07.2012 bezifferte das Jobcenter R.-M. den Erstattungsanspruch auf 810 € (für den 2. bis 4. Lebensmonat je 270 €). Mit Schreiben vom 11.07.2012 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ihr aufgrund des Erstattungsanspruchs für den 2. bis 4. Lebensmonat jeweils nur 30 € Elterngeld ausbezahlt werde. Für Lebensmonate ohne anrechenbare Beträge werde das Elterngeld, wie im Bescheid vorgesehen, ausgezahlt.
Am 18.07.2012 erhob der Klägerbevollmächtigte ohne Begründung Widerspruch gegen den Bescheid vom 25.06.2012. Er begehrte Leistungen in voller gesetzlicher Höhe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 02.10.2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die Klägerin nach Geburt der R Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom Jobcenter erhalten habe. Durch die Bewilligung des Elterngeldes habe sich ihr Anspruch dort nach Erteilung des Bewilligungsbescheides über Elterngeld nachträglich gemindert, da die Leistungen des Jobcenters nachrangig gegenüber dem Elterngeld gewährt würden. Das Jobcenter habe gegenüber der Beklagten einen Erstattungsanspruch gemäß § 104 SGB X in Höhe der von ihm zu Unrecht geleisteten Beträge. Diesen Erstattungsanspruch in Höhe ...