Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Angioödem. zeitweises Anschwellen von Lippen und Zunge. entstellende Wirkung der Lippenschwellung. Hervorrufen von Neugier und Betroffenheit bei Mitmenschen. Blickfang-Rechtsprechung. lebensbedrohliche Zungenschwellung. oberer Bewertungsrahmen. psychische Störung. rezidivierende Depression. Annahme einer verstärkenden Wirkung ohne Überschneidungen. Gesamt-GdB-Bildung
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Entstellung kann eine für die Bewertung des Grades der Behinderung relevante Teilhabebeeinträchtigung darstellen.
2. Im Schwerbehindertenrecht sind die vom BSG zum Krankenversicherungsrecht entwickelten Grundsätze, wann eine Entstellung anzunehmen ist, entsprechend anzuwenden.
Orientierungssatz
1. Zum Leitsatz 2 vgl BSG vom 10.3.2022 - B 1 KR 3/21 R - zur Veröffentlichung vorgesehen.
2. Das Angioödem kann als ein dem Quincke-Ödem vergleichbares Krankheitsbild nach Teil B Nr 17.2 VMG (Anlage zu § 2 VersMedV) bewertet werden, wobei eine entstellende Wirkung der Lippenschwellungen und das Auftreten von lebensbedrohlichen Zungenschwellungen zur Anwendung des oberen Bewertungsrahmens führen können.
3. Zur Bildung eines Gesamt-GdB von 60 aus einem Teil-GdB von 20 für das Funktionssystem "Haut" nach Teil B Nr 17.2 VMG und einem Teil-GdB von 50 für das Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche" nach Teil B Nr 3.7 VMG.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 13. April 2021 abgeändert.
Der Beklagte wird verpflichtet, unter weiterer Abänderung des Bescheides vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 sowie unter teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 2. Dezember 2013, bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 60 seit dem 4. April 2019 festzustellen.
Die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die höhere Neufeststellung des Grades der Behinderung mit mehr als 40.
Er ist 1957 geboren, hat nach dem Abitur ein Maschinenbaustudium abgeschlossen und war nach einer Tätigkeit bei der P AG seit 1993 als Berufsschullehrer tätig. Zwischenzeitlich ist er pensioniert. Er lebt von seiner Ehefrau getrennt, hat zwei volljährige Kinder und bewohnt alleine ein Eigenheim, das von ihm selbst versorgt wird (Anamnese BG N Reha-Klinik).
Am 22. April 2013 beantragte er bei dem Landratsamt K (LRA) erstmals die Feststellung des GdB.
Das LRA zog den Entlassungsbericht der BG N Reha-Klinik über die stationäre Behandlung vom 8. November bis 6. Dezember 2012 bei (Diagnosen: V. a. leichte depressive Episode, HWS-Syndrom bei Z. n. Bandscheibenvorfall, LWS-Syndrom bei Bandscheibenvorwölbung, Tinnitus aurium, V. a. psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten).
Der W gab in seinem Befundschein an, den Kläger zuletzt 2011 behandelt zu haben, nachdem dieser angegeben habe, durch ein extrem lautes Geräusch eines Schlagbohrers eine Hörminderung erlitten zu haben. Es sei eine Infusion mit 250 mg Prednisolut in absteigender Dosis durchgeführt worden, im Anschluss sei keine Wiedervorstellung erfolgt.
Nachdem H versorgungsärztlich nur Funktionseinschränkungen sah, die mit Teil-GdB von je 10 zu bewerten seien, lehnte das LRA den Antrag mit Bescheid vom 5. August 2013 ab, da kein GdB von wenigstens 20 vorliege.
Im Widerspruchsverfahren erhob das LRA den Befundschein des L. Dieser beschrieb eine mit Ängsten verbundene depressive Symptomatik. Diese verstärke sich mit erheblichen Schlafstörungen, Atemproblemen, Unruhe, Übelkeit und psychosomatischen Beschwerden, vor allem dann, wenn der Kläger seine Tätigkeit als Lehrer an der Berufsschule ausübe. Seit einigen Monaten komme ein Gefühl eines inneren Ausgelaugtseins und Niedergeschlagenheit hinzu. Die Beschwerden hätten im Laufe der Psychotherapie zwar nachgelassen, bestünden aber in etwas verminderter Form weiter fort. Der Kläger lebe allein, habe Kontakt zu seinen beiden Kindern. Insgesamt erscheine er ausreichend sozial integriert, wenn es auch immer wieder zu Phasen von Rückzug komme. Die ambulante psychotherapeutische Behandlung finde im wöchentlichen Rhythmus statt.
S führte hierzu versorgungsärztlich aus, dass nunmehr von einer stärker behindernden Störung ausgegangen werden könne, die mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten sei.
Mit Teilabhilfe-Bescheid vom 2. Dezember 2013 stellte das LRA dem folgend einen GdB von 30 seit dem 1. September 2012 fest.
Den Widerspruch im Übrigen wies das Regierungspräsidium Stuttgart - Landesversorgungsamt - mit Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 2014 zurück.
Am 4. April 2019 beantragte der Kläger bei dem LRA die Neufeststellung des GdB und legte das Attest des L vor. Dieser gab an, dass der Kläger an einer depressiven Symptomatik leide, die mit wechselnd starken Ängsten verbunden sei. Wesentlich für das jetzt verstärkte Auftreten der Beschwerden sei ein hereditäres Angioödem (Haut- und Schl...