Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankengeld. Arztbefragungsformular. Auskunft des behandelnden Arztes zur (Nicht-) Absehbarkeit des Wiedereintritts der Arbeitsfähigkeit ohne erneute Untersuchung des Versicherten. keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Auslegung des § 46 S 1 Nr 2 SGB 5. Beachtung der allgemeinen Handlungsfreiheit und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
Leitsatz (amtlich)
Die ohne erneute Untersuchung des Versicherten auf einem Arztbefragungsformular der Krankenkasse erteilte Auskunft des behandelnden Arztes zur (Nicht-)Absehbarkeit des Wiedereintritts von Arbeitsfähigkeit stellt eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung iSd § 46 S 1 Nr 2 SGB V grundsätzlich nicht dar.
Orientierungssatz
Bei der Auslegung des § 46 S 1 Nr 2 SGB 5 idF vom 20.12.1988 sind die aus dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art 2 Abs 1 GG bzw aus dem grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgenden Maßgaben zu beachten, da die gesetzliche Krankenversicherung als staatliche Pflichtversicherung mit Beitragszwang ausgestaltet ist (vgl etwa BVerfG vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 = BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5; Festhaltung LSG Stuttgart vom 5.7.2015 - L 5 KR 1791/14).
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 24.11.2014 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Krankengeld über den 18.01.2013 hinaus.
Die 1954 geborene Klägerin war ab 01.04.2008 beim Generalkonsulat der Republik K. (zuletzt als Verwaltungsangestellte) beschäftigt und deswegen bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Ihr Ehemann war ab 01.02.2009 ebenfalls beim Generalkonsulat der Republik K. beschäftigt und als Beschäftigter ebenfalls Mitglied der Beklagten. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin endete durch Arbeitgeberkündigung am 31.12.2012.
Unter dem 21.12.2012 stellte der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. M. der Klägerin eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Erstbescheinigung) aus (Diagnose M54.99 G: Rückenschmerzen, nicht näher bezeichnet). In der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist als voraussichtlich letzter Tag der Arbeitsunfähigkeit der 04.01.2013 angegeben. Bis zum 31.12.2012 (Beendigung des Arbeitsverhältnisses) erhielt die Klägerin (im Wege der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall) Arbeitsentgelt. Vom 01.01.2013 bis 18.01.2013 gewährte ihr die Beklagte Krankengeld i. H. v. 20,54 € täglich netto (23,33 € brutto).
Arbeitsunfähigkeits-Folgebescheinigungen bzw. Auszahlscheine für Krankengeld wurden von Dr. M. wie folgt ausgestellt:
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Datum: |
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voraussichtlich letzter Tag der Arbeitsunfähigkeit: |
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Bescheinigung |
04.01.2013 |
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18.01.2013 (Freitag) |
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Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung |
21.01.2013 |
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08.02.2013 |
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Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung |
21.01.2013 |
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kein Eintrag |
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Auszahlschein für Krankengeld |
04.02.2013 |
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kein Eintrag |
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Auszahlschein für Krankengeld |
15.02.2013 |
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kein Eintrag |
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Auszahlschein für Krankengeld |
01.03.2013 |
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kein Eintrag |
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Auszahlschein für Krankengeld |
15.03.2013 |
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kein Eintrag |
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Auszahlschein für Krankengeld |
28.03.2013 |
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kein Eintrag |
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Auszahlschein für Krankengeld |
11.04.2013 |
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kein Eintrag |
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Auszahlschein für Krankengeld |
25.04.2013 |
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kein Eintrag |
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Auszahlschein für Krankengeld |
08.05.2013 |
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kein Eintrag |
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Auszahlschein für Krankengeld |
Auf den genannten Auszahlscheinen für Krankengeld sind jeweils das Fortbestehen von Arbeitsunfähigkeit und der Tag des nächsten Praxisbesuchs (08.02.2013, 15.02.2013, 01.03.2013, 15.03.2013, 28.03.2013, 11.04.2013, 25.04.2013, 09.05.2013 bzw. 24.05.2013) angegeben. Weitere Auszahlscheine für Krankengeld sind bis 18.09.2013 ausgestellt worden (Schriftsatz der Beklagten im Berufungsverfahren vom 05.08.2015).
Auf einem Arztbefragungsformular der Beklagten gab Dr. M. unter dem 16.01.2013 (u.a.) an, der Zeitpunkt des Wiedereintritts der Arbeitsfähigkeit sei nicht absehbar. Das Arztbefragungsformular enthält den Aufdruck: “Datenschutzhinweis: Ihre Angaben sind notwendig, damit wir beurteilen können, ob weitere Maßnahmen erforderlich sind oder der Medizinische Dienst der Krankenversicherung zu beteiligen ist (vgl. § 284 Abs. 1 Nr. 4 und 7 SGB V und § 100 Abs. 1 Nr. 1 SGB X i. V. m. § 295 Abs. 3 Nr. 2 SGB V).„
Mit Schreiben vom 15.01.2013 lud die Beklagte die Klägerin zu einem Beratungsgespräch auf den 23.01.2013 ein. Man wolle erörtern, ob es zur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit neben medizinischer Hilfe weitere Hilfen oder weitere Unterstützung für die Klägerin gebe. Sie möge die Gehaltsabrechnungen von September 2012 bis November 2012 mitbringen. Das Beratungsgespräch fand am 23.01.2013 statt. Ausweislich des hierüber angefertigten Protokolls ist (auch) über das Krankengeld gesprochen worden. Der Klägerin wurde ein Hinweisblatt der Beklagten zur (durch Unterschrift bestätigten) Kenntnisnahme übergeben, in dem u.a. darauf hingewiesen ist, dass die Fortdauer von Arbeitsunfähigkeit lückenlos ärztlich festgestellt werden müsse; andernfalls ende die mit Krankengeld ausgestatte...